Wissenschaften

Wunderwelt der Laute

Wie sieht ein A aus, wenn man es spricht? Wie ein "ch", wie ein "s"? Sprache, gesprochene Laute, sind mehr als Schallwellen, mehr als Hören. Johanna Zinke hat sich Jahrzehnte lang mit einem faszinierenden Thema beschäftigt und es in Fotografien und Zeichnungen festgehalten: Wie sehen Laute eigentlich aus? Sehen sie bei unterschiedlichen Leuten dennoch gleich aus oder sprechen vier Leute das "i" in vier Variationen? Gibt es Gesetze, wie wirkt die Bildekraft?

Jedes Kind kennt es: Im Winter, wenn es kalt ist, wird gehaucht, was das Zeug hält, "rauchen" nennen es die Kleinen und "uhen" und "ahen", bis entsetzte Eltern vor Halsschmerzen warnen. Doch steckt hinter diesen flüchtigsten Gebilden aus Luft ein System? Kann man an einem solchen Hauch ein "a" von einem "t" unterscheiden und wie sehen die Buchstaben aus? Man kann und jeder Buchstabe hat seine ganze besondere Erscheinungsform.

Johanna Zinke hat in mühsamer Forschungsarbeit viele Menschen die Buchstaben sprechen lassen, diese Momente der Entstehung der jeweiligen "Gestalt" (Hauch oder Rauch) im Bild festgehalten und sich dann intensiv durch Zeichnungen mit der Form beschäftigt. Ein sehr mühsames und aufwändiges Verfahren und doch mit erstaunlichem Ergebnis: Am Entstehen der einzelnen Laute ist der ganze Mensch beteiligt, sein ganzer Körper arbeitet mit und er schafft durch den Laut immer ein ganz typisches Bild. So entsteht zwischen sich unterhaltenden Menschen ein wahres Hin- und Her von Erscheinungsformen, die dem normalen Auge unsichtbar bleiben – Sprache ist weit mehr als nur der reine akustische Informationsaustausch, es ist eine Interaktion, die weit über das Hören und vielleicht Sehen hinausgeht.

Besonders faszinierend am Buch sind die Bilderserien, die das Entstehen und Vergehen eines Lautes nachzeichnen: Vom ersten Moment an, an dem der Hauch den Mund verlässt bis zum Verschwinden des Bildes, das er erschafft, bildet sich eine ganz charakteristische Gestalt aus. Die Laute bilden sich auch gleich, wenn verschiedenen Menschen sprechen, egal, ob der Mensch nun den Kopf gerade oder nach oben hält. Einzige Unterschiede entstehen durch die jeweilige Stimmung der Menschen – wer wütend ist, spricht den Laut härter und kürzer, intensiver und schärfer aus als ein ganz entspannter Mensch oder eine Versuchsperson, die sich besonders um dramatische Sprechweise bemüht.

Das Buch eröffnet einen neuen Zugang zur Sprache und zeigt auf, dass wir Sprache nicht auf akustische Signale reduzieren dürfen. In Zeiten, in denen Menschen immer weniger miteinander sprechen, weil für die Unterhaltung Medien, Tonträger diverser Art und andere Methoden in den Vordergrund gerückt werden, verkommt die Sprache. Nicht nur im Wortschatz werden wir immer ärmer, PISA und andere Studien zeigen deutlich, dass wir auch im korrekten Gebrauch der Sprache nicht mehr mächtig sind, ja, dass wir unsere eigene Sprache immer weiter reduzieren auf das Wechseln erlernter Worthülsen, Phantasie, Freude am Sprechen und Sprachgestaltung bleiben außen vor.

Wie wichtig Sprache ist, wird Managern in Rhetorikseminaren eingetrichtert, dort übt man sich im Gebrauch der Sprache, die zum reinen Machtmittel verkommt. Dass Sprache ein Austausch auf Ebenen ist, die weit über das Vermitteln von Informationen und die Beeinflussung durch Inhalt und Lautstärke (man vergleiche nur die Wirkung einer nahezu gebrüllten aggressiven Kampfrede mit dem Vortrag eines lyrischen Textes im Theater!) hinausgeht, verliert sich in unserer "Kultur". Wir verarmen und an den Kindern bemerkt man das zuerst.

Durch diese Erkenntnisse etwas aufgeschreckt, reagieren nun viele überschnell und stellen wenig durchdachte Forderungen auf. Dass man die gesprochene Sprache als ein hohes Kulturgut sehen kann, das man im Schulalter bereits systematisch erüben sollte, um sich über die Laute bewusst zu werden, muss erst noch begriffen werden. Wer nicht als Kind das Sprechen lernt, indem bewusst die Laute gebildet werden und die kleinen Kinder wieder Sprachspiele machen wie Abzählverse, Reime oder auch für die ganz kleinen die beliebten Fingerspiele, und Worte nur aus der Konserve kennt, bildet weder seine Sprechwerkzeuge angemessen aus noch kann er mit der Stimme modulieren.

Wer bewusst spricht, arbeitet mit seinem ganzen Körper, er ist ein "A", ein "O", er erlebt den Unterschied zwischen den Buchstaben mit ihrer ganz besonderen Färbung, er spürt nach, wie das Wort entstanden ist – es heißt nicht zufällig "Baum" oder "Mensch", "Kuh" oder "Milch". Sprechen ist Tanzen, ist Bewegung, ist Leben.

Johanna Zinke hat mit ihren Bildern und Zeichnungen ein reiches Erbe hinterlassen, das dazu aufruft, sich bewusst zu machen, was wir tun, wenn wir sprechen. Zinke überschreitet mit dem Buch Grenzen zwischen Beobachtung, Wissenschaft und Forschung, sie verbindet hier mehrere Bereiche miteinander – zum Nutzen aller, die Sprache als lebendiges Wesen verstehen möchten. Erst wenn wir Sprache wieder als Gut begreifen, das bewusst gepflegt und geübt werden muss, werden wir auch wieder zur Kommunikation fähig. Denn ein Echo, das nicht klingt, ist wie ein Geigenton auf einer Saite, die man am Schwingen hindert. So ist es mit der Sprache auch. Und uns ist doch allen daran gelegen, dass unsere Worte mehr sind als akustische Anschläge auf ein Trommelfell, oder?

csc
03.11.2002

 
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Das Buch:

Johanna F. Zinke: Luftlautformen sichtbar gemacht. Sprache als plastische Gestaltung der Luft

CMS_IMGTITLE[1]

Stuttgart: Freies Geistesleben 2001
160 S.
ISBN:3-7725-1856-7

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