Wissenschaften

Verdecktes entdecken

Die Fundus-Bücherei bildet längst eine eigene Bibliothek. Wer die Bibliothek hat, hat einen Fundus eher seltener Schriften zur Kunst, Literatur, Philosophie, Ästhetik (vorwiegend) des 20. Jahrhunderts zur Hand. Die von Jan-Frederik Bandel herausgegebene Bücherei ist ein Zentrum mehr oder minder fundamentaler Texte - vor allem des westlichen Denkens. Texte aus Osteuropa sind die Rarität. Eine dieser Raritäten ist der jetzt veröffentlichte Band "Über die Dinge". Auf 900 Seiten vereint die 181. Ausgabe der Reihe "Texte der russischen Avantgarde".

Auch zwei Jahrzehnte nach 1989 ist dort noch viel zu entdecken, wo so vieles verdeckt war: in Russland, Sowjetrussland, Sowjetunion. Vieles ist in den beiden Jahrzehnten in Russland aus den Archiven geholt, was in dem Land nach 1917 gefördert, geduldet, verschwiegen, eliminiert wurde. Vieles von dem ist bisher nicht in die deutschsprachigen Regionen gekommen. Der Band "Über die Dinge" bringt wieder ins Bewusstsein, was bereits in den 1920er Jahren da war und vergessen wurde. Er holt ins Land, was bislang keine Beachtung fand. Deshalb ist die Sammlung von Anke Hennig von besonderem Wert: Ein nötiges wie nützliches Handbuch zur russischen Avantgarde.

Die vorrevolutionäre russische Kunst war inspiriert von der westeuropäischen Moderne, das revolutionäre Russland war auf dem Weg in die Moderne, das Sowjetrussland war die Moderne - summarisch, vereinfacht gesagt. Es waren die Dinge, die real waren, die das Thema und die Auseinandersetzung für die Künste wurden. Von den Dingen, dem Dinglichen, ist in den Texten die Sprache, die Konstruktivisten, Futuristen, Formalisten, Faktographen und all ihre Gruppierungen, von Petrograd bis Moskau und dazwischen, beschäftigten. Es sind nicht nur beliebige Texte zur Sache. Die Sache wird mit aller erdenklichen sprachlichen Dringlichkeit in der Sache vertreten. Rigoroses, Absolutes, Gültiges ist formuliert, was die weitergehenden Zeiten relativierten.

Es ist - noch immer und immer wieder - beeindruckend, was an Ansichten und Absichten in den Essays der zwanziger Jahre artikuliert wurde. Und von wem! Den Anfang macht ein geradezu programmatischer Artikel von Kasimir Malewitsch. Aufnahme fanden in den Band Koryphäen wie Alexander Rodtschenko, Wladimir Tatlin, Nikolai Punin. Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg fehlt ebenso wenig wie die Sprachmeister und -erneuerer Daniil Charms und Wladimir Chlebnikow. Allesamt begleitet von nur wenigen vertrauten Theoretikern, die treffend Zeitansichten und Zukunftsvisionen knapp, prägnant oder rhetorisch-konstruiert vortragen. In manchen Text werden interessierte Leser sofort hingezogen, aus manchen sofort wieder hinausgedrängt.

"Über die Dinge" ist weniger ein Lesebuch, sondern eher ein Studienbuch. Das Wesentlichste der publizierten Publikationen ist die wiederholte Beschäftigung der Autoren mit der Kunst als sozialen Auftrag. Das hat sehr viel Gegenwärtiges, seit die Zeiten der dominierenden abstrakten, informellen, experimentellen Kunst auch Teil der Historie sind. Mit der sich von Text zu Text erweiternden, ergänzenden Sammlung im Sinn, kann man gelassener und gefestigter durch die Kunstwelt heutiger Tage gehen.

Bernd Heimberger
15.03.2010

 
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Das Buch:

Anke Hennig (Hg.): Über die Dinge. Texte der russischen Avantgarde. Fundus-Bücherei Band 181

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Hamburg: Philo Fine Arts Verlag 2010
910 S., € 26,00
ISBN: 978-3-86572-580-6

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