Hörbücher
Maigret-Miniaturen
Maigret lebt! Und dies dank des Diogenes Verlags mehr denn je. Zum 80."Geburtstag" des sehr individuellen Pariser Kommissars haben die Züricher Hüter der anspruchsvollen Literatur eine 75-bändige Gesamtausgabe von Simenons Maigret-Romanen neu aufgelegt und sukzessive von April 2008 bis September 2009 herausgegeben. Einige der Folgen wurden auch als Hörbuchfassung veröffentlicht. Der große Erfolg dieser gekürzten Lesungen ist insbesondere den stimmlich gewaltigen Sprechern Gert Heidenreich und Friedhelm Ptok zuzuschreiben. Doch damit nicht genug - quasi als Bonbon und Abrundung der Maigret-Reihe ist dieser Tage eine Sammlung von fünf Maigret-Miniaturen erschienen: Fünf ungekürzt gelesene Erzählungen, in denen sich neben den beiden bekannten Sprechern Edgar M. Böhlke ohne qualitative Abstriche als dritte Stimme Simenons einfügt.
Die fünf Kurzgeschichten, deren Lesungen mit einer jeweiligen Dauer zwischen 30 und 80 Minuten auch schnell mal zwischendurch konsumiert werden können, fordern Maigrets Spürsinn während verschiedener Perioden seines Schaffens. In einer Episode steht er zwei Tage vor seiner Pensionierung, in einer anderen wird er sogar aus seinem wohlverdienten Ruhestand zurückgerufen. Die Miniaturen selbst handeln von klassischen Themen wie Gier, Rachsucht, ungeklärten Morden, Morddrohungen, verzweifelten Handlungen aus Liebe etc. Georges Simenons gigantisches Werk lässt sich grundsätzlich in drei Kategorien einteilen: Neben den Non-Maigret-Romanen sind dies die oben erwähnten 75 Maigret-Romane und eben die Maigret-Erzählungen, aus denen die vorliegenden fünf Episoden entstammen. Der Diogenes-Verlag ist übrigens der einzige Verlag außerhalb Frankreichs, der das ganze Schaffen Simenons in seinem Programm führt!
Der geneigte Maigret-Leser bzw.-Hörer wird schnell feststellen, dass ein Maigret in Romanform anders agiert und rüberkommt als ein Maigret in einer Kurzgeschichte. Letzterem kommt die brillante Langatmigkeit des Kommissars gelebt in seinen zahllosen Verhören und Observationen abhanden, die für Maigret so typisch und charakteristisch ist. Stattdessen muss Maigret in den vorliegenden Erzählungen konkreter handeln und schneller auf den Punkt kommen als in einem Roman, der ihm durchschnittlich knapp 200 Seiten Zeit dafür einräumt. Insbesondere die beiden kürzesten Geschichten machen einem klar, dass es zeitlich gesehen eine natürliche untere Schwelle für Maigrets Ermittlungen gibt: "Der Mann auf der Strasse" und "Der Kahn mit den beiden Erhängten", beides Lesungen mit jeweils knapp über 30 Minuten, lassen den Hörer mit dem Eindruck zurück, nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Fall präsentiert bekommen zu haben bzw. einer Zusammenfassung beigewohnt zu haben.
Die schriftstellerische Brillanz Georges Simenons dagegen kommt selbst in den kürzesten Abenteuern Maigrets nicht zu kurz. Es lohnt sich an vielen Stellen, immer wieder einmal die letzten Sekunden zurückzuspulen, wenn man das Gefühl hat, einem Satz gelauscht zu haben, dem man heutzutage in der breiten Masse der Kriminalliteratur nie begegnen würde und der einen einfach entzückt ein Fan Maigrets und Simenons sein lässt. So beginnt z.B. die fünfte Episode aus der vorliegenden Sammlung, "Der Kahn mit den beiden Erhängten", mit einem solchen: "Der Schleusenwärter von Coudray war ein magerer Mensch von melancholischer Wesensart, im Kordsamtanzug, mit hängendem Schnurrbart und misstrauischem Blick, ein Typ Mann, wie man ihn unter Gutsverwaltern häufig antrifft". Simenon und Maigret haben ein Anrecht darauf, behaupten zu können, diejenigen gewesen zu sein, die hochwertige Literatur und das Genre des Kriminalromans in Einklang gebracht haben.
Christoph Mahnel
26.10.2009