Hörbücher

Das Kinderheim des Grauens

Dass Jens Remy einmal vor seiner Frau Karin sterben würde, war die größte Befürchtung der Witwe. Ohne ihren verständnisvollen Mann kommt ihr nicht nur das hübsche Münchner Haus mit Garten so groß und verloren vor. Ohne ihn ist es auch schwieriger, ein gutes Verhältnis zu ihren drei Töchtern Angelika, Imke und Anne aufrechtzuerhalten. Karin ist schon immer eine hartherzige, harsche und scheinbar emotionslose Frau und Mutter gewesen. Ihr Mann war derjenige, der die Familie zusammengehalten und den Töchtern die nötige Liebe und Wärme gegeben hat.

Was ihre Töchter nicht wissen, ist, dass Karin nicht immer eine so kalte und beherrschte Person gewesen ist, sondern als Teenager sogar das genaue Gegenteil davon: lebenslustig, wagemutig und aufmüpfig. Doch ein halbes Jahrhundert später scheinen die junge und die verwitwete Karin nichts mehr gemeinsam zu haben. Dass es jedoch mehr als triftige Gründe für Karins Wesensveränderung gibt, ahnen die Töchter nicht, bis Imke ihrem Vater an seinem Sterbebett ein Versprechen abnimmt. Er beauftragt sie damit, Peter zu suchen. Keine der Töchter weiß, wer damit gemeint sein könnte. Doch schon bald kommt Imke dem Geheimnis ihrer Mutter und dem geheimnisvollen Peter auf die Spur - eine Spur, die sie zu einem Kinderheim in den späten 1950er-Jahren führt.

Die Münchner Krimi-Autorin Inge Löhnig schreibt unter dem Pseudonym Ellen Sandberg nun seit drei Jahren Spannungs- und Familienromane. Nach "Die Vergessenen", "Der Verrat" und "Das Erbe" ist "Die Schweigende" nun schon der vierte Roman dieser Art und mit Sicherheit für viele derjenige, der beim Lesen bzw. Hören am schwersten zu verdauen ist. Sandberg verarbeitet darin ein ganz dunkles Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte, in dem Kinder unter dem Deckmantel der Christlichkeit und Nächstenliebe körperlich und seelisch misshandelt wurden.

Perspektivwechsel und Zeitsprünge gehören bei Ellen Sandberg genauso dazu wie eine besonders anschauliche Charakterzeichnung. In "Die Schweigende" hat sie wieder einmal sehr ausdrucksstarke weibliche Charaktere gezeichnet. Neben der Hauptperson Karin entstehen auch die drei Töchter sehr deutlich vor dem inneren Auge des Hörers. Die älteste, Angelika, hat schon früh ihren Mann verloren, lebt aber dank seines Erbes ein finanziell unbeschwertes Leben. Die beiden Kinder sind bereits erwachsen und aus dem Haus. Imke, die zweitälteste, ist die verlässlichste der drei Schwestern. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren 17-jährigen Zwillingen in einem Münchner Reihenhaus und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin. Das Nesthäkchen Anne ist die Karrierefrau der Familie, muss jedoch nach einer herben beruflichen Enttäuschung ihr Leben neu ordnen. Dabei schreckt sie - ehrgeizig und kaltherzig, wie sie ist - auch nicht davor zurück, rechtliche Schritte gegen ihre eigene Mutter einzuleiten.

Während die drei Vorgängerromane von Thomas M. Meinhardt als Hörbücher eingelesen wurden, wurde für "Die Schweigende" Vera Teltz engagiert. Diesmal eine weibliche Stimme zu wählen, ist eine nachvollziehbare und selbstverständliche Entscheidung, da dieser Roman vor vier Frauenfiguren dominiert wird. Meinhardts Nachfolgerin am Mikrofon wird ihrer Aufgabe mehr als gerecht. Sie gibt dem Grauen eine Stimme, ohne pathetisch oder übertrieben zu wirken.

Zwar wurden in Sandbergs bisherigen Romanen auch immer folgenschwere Geheimnisse gelüftet und auch dunkle Kapitel der deutschen Geschichte beleuchtet, doch hat sie sich mit der Thematik des aktuellen Romans ein Kapitel vorgenommen, das man als Hörer manchmal gar nicht glauben mag. Die Schilderung der Grausamkeiten würde man, wüsste man es nicht besser, eher im dunklen Mittelalter verorten als in der Mitte des 20. Jahrhunderts. "Die Schweigende" lebt zwar auch von dem Spannungsbogen rund um die Identität Peters und von der Frage, ob er noch lebt oder nicht. Allerdings wird dieser Spannungsbogen nicht selten von erschütternden Schilderungen im Kinderheim des Grauen überschattet.

Sabine Mahnel 
07.12.2020

 
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Das Buch:

Ellen Sandberg: Die Schweigende

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Sprecherin: Vera Teltz Berlin: Der Audio Verlag 2020 Spielzeit: 815 Min., € 20,00 ISBN: 978-3-7424-1824-1

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