Hörbücher

In den Abgründen der Eugenik

Als Ende April 1945 der Zweite Weltkrieg in den letzten Zügen liegt, erhält der in München stationierte Michael Hansen einen Spezialauftrag des US-Geheimdiensts. Hansen ist 25 Jahre alt, amerikanischer Offizier und von deutscher Herkunft. Er soll die nationalsozialistischen Bezüge zu Alfred Ploetz, einem 1940 verstorbenen deutschen Wissenschaftler, untersuchen. Ploetz gilt als Begründer der Eugenik in Deutschland und prägte den Begriff der Rassenhygiene. Das Gedankengut von Ploetz fand bei den Nazis seinerzeit großen Anklang und führte dazu, dass während dieser Schreckensherrschaft hunderttausende Menschen ihr Leben bei eugenisch motivierten Versuchen lassen mussten. Hansen stößt bei seinen Recherchen in einem Münchener Antiquariat auf den Dissidenten Wagner, einen ehemaligen Weggefährten von Ploetz. Je tiefer sich Hansen in seinen Auftrag hineinkniet, desto größer werden die Abgründe, die sich vor ihm auftun.

Es sind die besonderen Jahre des Vakuums zwischen Kriegsende und Gründung der Bundesrepublik Deutschland, in denen Uwe Timm seinen neuesten Roman "Ikarien" spielen lässt. Der Name des Titels ist eine Referenz zu der gleichnamigen ehemaligen Gemeinde im US-Bundesstaat Iowa, wohin auch Wagner und Ploetz Ende des 19. Jahrhunderts voller Erwartungen gereist waren. Enttäuscht von der dortigen Umsetzung der zugrunde liegenden Gedanken Étienne Cabets war der Besuch eine Motivation für Ploetz, sich seine ganz eigene Weltanschauung zu schaffen. Timm, Jahrgang 1940, steht im Herbst seiner erfolgreichen Schriftstellerkarriere. Mit "Ikarien" hat er nun ein sehr persönliches Werk geschaffen, schließlich ist Alfred Ploetz der Großvater seiner Ehefrau.

Parallel zur Buchausgabe bei Kiepenheuer & Witsch wurde das mehr als 500 Seiten umfassende Werk bei Random House Audio ungekürzt als Hörbuch eingelesen. Herausgekommen sind dabei elf CDs mit einer Laufzeit von mehr als dreizehneinhalb Stunden Laufzeit. Als Sprecher konnte mit Ulrich Noethen ein ganz großer seines Fachs gewonnen werden. Noethen wird oft dann eingesetzt, wenn Literatur spannend transportiert werden soll. So hat der deutsche Schauspieler in den letzten Jahren beispielsweise mit seinen begeisternden Fallada-Lesungen einem deutschen Schriftsteller aus der Zwischenkriegsepoche zu neuem Ruhm verholfen.

Timm hat sich mit "Ikarien" einen Roman als Erzählvehikel ausgesucht, mit dessen Hilfe er ein zeitgeschichtliches Thema seziert und abhandelt. Um darin möglichst viel Sachinhalt verarbeiten zu können, behilft er sich mit dem bereits erwähnten Kniff, seinen Protagonisten in Bibliotheken recherchieren zu lassen und ihn in ausführliche Diskussionen mit Wagner zu verstricken. Der eine oder andere mag sich bei einem Roman etwas mehr künstlerisch genutzte Freiheiten wünschen und argumentieren, dass Timm alternativ doch ein Sachbuch hätte schreiben können. Der Grat dazwischen ist im vorliegenden Fall sicherlich ein sehr schmaler. Doch glücklicherweise gelingt es dem Autor sehr gut, den Geist der damaligen Zeit zu erfassen. So streut er beispielsweise hier und da eine amouröse Verstrickung zwischen den siegreichen amerikanischen Militärs und den besiegten deutschen Frauen ein.

Darüber hinaus zeigt sich Timms schriftstellerische Leistung vor allem darin, dass er den rassenwahnsinnigen Gedanken von Ploetz und den Nationalsozialisten mit sprachlicher Brillanz und geistesgegenwärtigem Humor begegnet. Da werden erschreckende Begrifflichkeiten mit wunderbarer Nüchternheit in den Kontext von Hansens Leben im Nachkriegsdeutschland gesetzt, was wiederum die von Timm gewählte Vorgehensweise, lieber einen Roman als ein Sachbuch geschrieben zu haben, vollends rechtfertigt. Der Autor hat sich mit "Ikarien" einer großen Herausforderung gestellt, die er ganz und gar erfolgreich gemeistert hat. Timm hat sich mit der Geschichte der Eugenik und dem Pakt zwischen Ploetz und den Nationalsozialisten gewaltigen und furchterregenden Erzählstoff gekrallt und diesen belletristisch, aber zugleich höchst informativ aufgearbeitet. Oftmals überfordern derartige Bücher die Umsetzung als Hörbuch, doch hier gebührt Ulrich Noethen Dank, der mit seinem stimmlichen Zutun und der angemessenen Vortragsgeschwindigkeit dem Hörer ein ähnlich großes Vergnügen bereitet wie Timm seinen Lesern.

Christoph Mahnel
04.12.2017

 
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Das Buch:

Uwe Timm: Ikarien

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Sprecher: Ulrich Noethen
München: Random House Audio 2017
Spielzeit: 816 Minuten, € 19,95
ISBN: 978-3-8371-4001-9

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