Romane
Literatur mit hoher Aktualität
Um es kurz zu machen: Wer ein packendes Buch in lebendiger Sprache mit plastischen wie aus dem Leben gegriffenen Figuren, einer rasch und zielstrebig vorwärtsschreitenden Handlung, überraschenden Wendungen, Spionage, Gegenspionage, Verschwörungen, Intrigen, Liebe, Freundschaft, Verrat, Betrug, Verkleidungen, Verstellungen, Verfolgungsjagden und atmosphärischen exotischen Orten lesen will, wer mitgerissen, abgelenkt und unterhalten werden will, der sollte die Lektüre der Besprechung sogleich abbrechen und Ado Graessmanns "Trojanische Hühner" kaufen.
Allerdings ist eine Einschränkung zu machen: Jeder, der Wert legt auf Korrektheit in Orthographie, Groß- und Kleinschreibung, Zusammen- und Auseinanderschreibung und Interpunktion, wird sich bei diesem Werk auf jeder Seite unaussprechlich ärgern, sodass er es gar nicht erst in die Hand nehmen sollte. Das Buch wurde womöglich mit einem Diktaphon geschrieben und danach nicht oder kaum lektoriert. Da der Autor ein talentierter Erzähler ist, ist es ihm durch dieses Verfahren gelungen, einen rhythmischen Text zu erzeugen, der in seinem Duktus einem mündlichen Bericht sehr nahekommt. Auf diese Weise kann er den anspruchslosen Leser, der sich in eine Geschichte hineinziehen lassen und von ihr aufsaugen lassen will, ebenso interessieren wie den Philologen, der mit solchen Phänomenen vertraut ist.
Die Fiktion ist in einen historischen Rahmen gestellt. Auch wenn in dem Buch keine Zahlen genannt werden, lässt sich das historische Ereignis, welches den Ausgangspunkt der Handlung bildet, genau benennen: Vom 4. November 1979 bis zum 20. Januar 1981 besetzten iranische Studenten die US-Botschaft in Teheran und nahmen 42 Diplomaten in Geiselhaft, um die Auslieferung des Schahs Mohammed Reza Pahlavi zu erzwingen. Der CIA-Agent Mike, dem es dank der Hilfe seines Freundes Ali zu fliehen gelingt, arbeitet in der Folge an der Entwicklung eines Virus mit, mit welchem ausschließlich Iraner infiziert werden können, um die den USA bereitete Schmach zu rächen. Verbreitet wird das Virus durch die Infektion von Hühnern.
Mikes Gegenspieler ist der ehemalige iranische Oppositionelle und nunmehrige Geheimdienstchef und Innenminister Sait. Aus dieser Konstellation entwickelt der Erzähler eine spannungsreiche Handlung voll von Verwicklungen und schrillen Effekten. Der Autor dürfte durchaus an eine Verfilmung gedacht haben. Reizvoll sind die Wechsel der Erzählperspektive.
Ein interessanter Aspekt ist, dass Graessmann offenbar großen Wert darauf legte, dass der biologische Kampfstoff, das S-152i-Influenza-Virus, das im Roman von fiktiven Figuren entwickelt wird, tatsächlich entwickelbar wäre bzw. ist. Die präzisen fachlichen Ausführungen dazu mag mancher Leser überfliegen. Ado Graessmann alias Prof. em. Dr. med. Adolf Gräßmann, ehemaliger Mitarbeiter am Institut für Molekularbiologie und Bioinformatik der Berliner Charité, entwickelte ein Verfahren zur Mikroinjektion. Indem der Roman über die Fiktion in die Wirklichkeit hinausweist, macht er auf die Ambivalenz des biotechnologischen Fortschritts aufmerksam. Es ist erstaunlich, dass dieses wenige Monate nach Ausbruch der Covid-19-Pandämie erschienene Buch bisher so wenig Beachtung gefunden hat.
Die Subtexte, die benannt werden und auf welche hinzuweisen der Literarhistoriker sich nicht zu versagen vermag, sind Homers "Ilias" mit der Episode vom Trojanischen Pferd, der von Hesiod und weiteren antiken Autoren erzählte Mythos von der Büchse der Pandora und das Gespräch im Hause des Polemarchos in Platons "Staat". Die klassischen Textverweise, auf die der von der Intrige mit- und hingerissene Leser nicht weiter achten wird, deuten darauf hin, dass der Text nicht einfach nur als tagespolitische Fußnote gelesen werden will, auch wenn diesem oder jenem Leser bei der Lektüre des Romans verschwörungstheorienumwobene geheimnisvolle Enigmata wie der Ursprung von Covid-19 oder die nach seiner Publikation erfolgte Sprengung von Nord Stream in den Sinn kommen mögen.
Es geht in diesem unterhaltenden Buch auch um List und um Rache als ewige Triebfedern der Geschichte und um die ewige Frage nach dem Sinn der Gesetze. Dienen sie dem Wohl der Allgemeinheit oder dem Erhalt der Macht der Herrschenden? Vor allem aber geht es um Aufregung, Spannung und Katharsis.
René Sternke
27.02.2023