Romane
Eine Lektüre, die einer Art Offenbarung gleichkommt
Berlin, Bundestag, Herbst 2011. Deutschland hat dunkle Jahre hinter sich. Es war die Zeit der NSU. Die SPD schlummert in der Opposition, als an einem Novembertag in Eisenach ein ausgebranntes Wohnmobil gefunden wird: Das Ende einer rechtsextremen Terrorzelle stellt die noch junge Berliner Republik vor nahezu unlösbare Fragen. Plötzlich zur moralischen Instanz erhoben, brilliert der Abgeordnete Andi Nair als Vorsitzender des eingesetzten Untersuchungsausschusses. Protokolliert wird das Geschehen von seinem Büroleiter Wegman Frost, der die Verkommenheit der Verhältnisse, das Versagen der Behörden kaum fassen kann und in einen Strudel von Selbstzweifeln gerissen wird. Als Pflegekind mit ungewisser Herkunft hatte ihn sein Einsatz gegen Fremdenhass in die Politik geführt.
Damit ist er nicht allein: Sein Freund aus Jugendtagen, Flo Janssen - einst als namenloses Baby aus dem brennenden Saigon ausgeflogen -, steht jetzt am Rednerpult des Reichstags und verkündet neoliberale Ideen. Der ist nicht irgendjemand, er ist der Vizekanzler.
Wegman Frost ist Büroleiter des SPD-Bundestags-Abgeordneten Andi Nair, der schon viermal das Direktmandat für seinen Wahlkreis nahe Hannover gewonnen hat, sein alter Freund aus Jugendtagen. Zu der damaligen Clique gehörte auch Flo Jansen, der einst als Kind aus Saigon gerettet wurde, nach dem Studium bei der FDP gelandet ist und nun als Wirtschaftsminister und Vizekanzler am Kabinettstisch sitzt. Erzählt wird aus der Perspektive Wegmans, der sich scherzhaft als "Indianer" bezeichnet, weil er aus einer Reservation in Idaho stamme, er wurde aber bei Pflegeeltern aufgezogen. Die Drei haben sich in Schaumburg-Lippe kennengelernt, nahe von Gerhard Schröders Geburtsort. Doch im Gegensatz zur niedersächsischen Provinz ist Berlin ein Haifischbecken: Der Stärkste überlebt!
Unterhaltung, von der einem nach nur wenigen Sätzen ganz schwindelig wird - in Deutschland braucht es unbedingt mehr Autoren und Autorinnen vom Talent eines Ulf Erdmann Zieglers. Sein Talent haut einen glatt vom Hocker; noch mehr jedoch die Lektüre seiner Geschichten. Diese bedeuten ein Erlebnis wie eine Achterbahnfahrt, voller Höhen und Tiefen; und beides genießt man mit heftig klopfendem Herzen, einem strahlenden Lächeln auf den Lippen und wachem Verstand. Ziegler versteht es nämlich aufs Grandioseste, den Leser nicht nur 1a zu unterhalten, sondern regt ihn zum Nachdenken an, zum Über-den-Tellerrand-Hinausschauen. "Eine andere Epoche" nimmt in den Blick, wie dieses Land zu dem wurde, was es heute ist. Eine Seltenheit unter den Neuerscheinungen der letzten Jahre!
Eine ungewöhnlichere Lektüre, definitiv nicht nullachtfünfzehn bekommt man mit den Büchern von Ulf Erdmann Ziegler in die Hände. Diese sind alles andere als Mainstream und damit etwas ganz Besonderes im Regal. "Eine andere Epoche" bedeutet Genuss pur. Man liest die gut 250 Seiten wie im Rausch. Da ist man ganz enttäuscht, dass der vorliegende Roman nicht um einiges dicker geraten ist, und beginnt nach dem letzten Satz sofort wieder von vorne. Hoffentlich folgt bald Zieglers nächster Geniestreich!
Susann Fleischer
29.08.2022