Romane
Ein Historienschmöker par excellence
New York, 1865: Die frisch verheiratete Emily Warren Roebling gerät in Panik, als sie mit der Fähre im vereisten East River stecken bleibt. Es wäre nicht der erste folgenschwere Fährunfall. Doch die Passagiere kommen mit dem Schrecken davon. Wie gut, dass die Stadt endlich den Bau einer Hängebrücke genehmigt hat. Emilys Schwiegervater, der deutsch-amerikanische Ingenieur John Augustus Roebling, wird mit dem Auftrag betraut. Er beginnt die Planungen für ein monumentales Bauwerk: Eine imposante Konstruktion soll den East River überspannen und die beiden Stadtteile Manhattan und Brooklyn miteinander verbinden. Doch es kommt zu einer Katastrophe: Während Vermessungsarbeiten für einen Brückenpfeiler hat er einen Unfall, in dessen Folge er sechzehn Tage später an einer Tetanusinfektion stirbt.
Emily ahnt zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sie diejenige sein wird, die diese kolossale Aufgabe zu Ende bringen muss. Denn ihr Mann Washington, nach dem Tod seines Vaters fortan der Chefingenieur der Brooklyn Bridge, wird schwer krank. Die Dekompressionskrankheit macht ihn im Frühsommer 1872 für Monate bettlägerig. Danach sitzt er im Rollstuhl und kann sich täglich nur noch kurze Zeit konzentrieren. Also übernimmt Emily gegen erbitterte Widerstände die Führung der enormen und gefährlichen Baustelle. Sie will ihrem geliebten Mann zeigen, dass sie an ihren gemeinsamen Traum glaubt. Und der Welt beweisen, dass eine Frau ein Weltwunder schaffen kann. Im Selbststudium bringt sie sich die dazu notwendigen mathematischen und Ingenieurkenntnisse bei. Daneben übernimmt sie die Pflege ihres Mannes.
Doch der Kampf lohnt sich: Bei der Eröffnung, am 24. Mai 1883, reitet Emily mit Präsident Chester A. Arthur über die Brücke. Zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung ist die Brooklyn Bridge die längste Hängebrücke der Welt; sie übertrifft alle zuvor errichteten in ihrer Länge um mehr als 50 Prozent. Und für die Stadt New York wird das Bauwerk schnell zu einem neuen Wahrzeichen. Emily Warren Roebling schreibt sich in die Annalen der US-amerikanischen Ingenieursgeschichte. Und ihr Schaffen dient als Vorbild für Frauen nachfolgender Generationen. Da war es höchste Zeit, dass sie auch außerhalb Nordamerikas eine Stimme bekommt, ihr Schicksal für interessierte Leser miterlebbar wird ...
Historienkino der genialsten, weil fesselndsten Sorte - während der Lektüre von Petra Huckes Romanen unternimmt man eine noch nie dagewesene Reise in längst vergangene Zeiten. Diese nehmen einen vollkommen gefangen, sodass man von der Welt herum nichts mehr mitbekommt; so auch die Lektüre von "Die Architektin von New York". Über solch grandiose Unterhaltung vergisst man glatt das Atmen. Was Huckes Bücher aber so einzigartig, geradezu berauschend macht, ist diese Unmittelbarkeit der Handlung und die Darstellung der emotionalen Lage aller Protagonistinnen. Ab der ersten Seite, sogar dem ersten Satz glaubt man sich mittendrin im Geschehen, statt nur dabei. Das hat Seltenheit auf dem deutschen Literaturmarkt. Hucke kann schreiben, so gut wie nur wenige andere ihrer Zunft. Danke für dieses Lesehighlight!
Hinter jedem starken Mann steht eine noch stärkere Frau. Das beweist die mehrbändige Reihe des Piper Verlages "Bedeutende Frauen, die die Welt verändern" (u.a. über Mata Hari, Anna Freud, Maria Montessori) unterhaltsam und fesselnd. Autorin Petra Hucke setzt Emily Warren Roebling, der Frau, die die Brooklyn Bridge baute, ein literarisches Denkmal. "Die Architektin von New York" ist aber noch weitaus mehr als ein Juwel im Bücherregal, nämlich ein äußerst seltener Genuss unter den Historienschmöker dieses Jahres. Das muss man lesen; unbedingt!
Susann Fleischer
21.03.2022