Gedichtbände

Von der Philosophie des Einklangs

Soziale Balance, Frauenrechte, Work-Life-Balance, Ressourcenknappheit und Umweltschutz - die drängendsten Themen der Gegenwart, so meint man! Für die, die schon früh wachen Geistes waren, ist das alles andere als aktuell, im Gegenteil: fast schon ein alter Hut! Spätestens seitdem der Club of Rome 1972 den Bericht "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichte, war eigentlich klar, dass das Handeln des einzelnen Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Welt als Ganzes hat, dass die Ressourcen nicht endlich sind und das unser Handeln Folgen für alle Generationen nach uns hat. Ursula Guthörl hat dies schon früh in ihren Gedichten verarbeitet, die ersten Denkanstöße und Betrachtungen in die Richtung gehen auf spätestens diese Zeit zurück (die Gedichte sind in der Regel mit ihrem Entstehungsjahr versehen, was ganz neue Betrachtungen erlaubt). Doch schon viel früher erlaubt uns die damals noch junge Autorin einen Blick in ihre Seele, denn das älteste Gedicht datiert auf 1958.

1936 im Saarland geboren, ist Guthörl in ihrem Leben viel rumgekommen und hat viel Erfahrung sammeln können, gute wie schlechte - und das merkt man ihren Gedichten an. 1965 zog sie nach Luxemburg, wo sie bei der "Kommission der Europäischen Gemeinschaften", dem Vorläufer der heutigen EU-Kommission, im Sekretariatsbereich tätig war. Dort blieb sie bis zu ihrer Pensionierung, nicht ohne in der Zwischenzeit ihren Horizont und ihre Erfahrungen nachhaltig zu erweitern: Die Jahre zwischen 1981 und 1984 verbrachte sie (als unbezahlten Urlaub) in Süd-Indien, wo sie die Lehren des Gurus Sri Aurobindo verinnerlichte. Spirituelle Suche und philosophische Betrachtungen hatten sie schon immer fasziniert, und so fokussierte sie sich auch nach außen hin darauf. Wasser-Morgen, ihr erster autobiografisch inspirierter Roman, erschien 2005 und erzählt von dieser Zeit. 2018 zog Ursula Guthörl nach Berlin und lebt seitdem dort.

Sie ist und war schon immer ein Freigeist, der sich nicht einsperren lässt, davon zeugen ihre Gedichte schon früh. Offen und reflektiert ist Guthörl stets auf der Suche nach sich selbst: "Sechs kleine Geister" (1972), eine wundervolle, reflektierte Selbstbetrachtung, oder "Neunzig Jahre Leben" (2006) sind nur zwei der vielen Stationen auf ihrer Suche. Mit Werken wie "Politik" (1972) bekommt das namensgebende Thema sein Fett weg, und auch der Akt des Schreibens an sich kommt immer wieder zur Betrachtung ("Gedichte" von 1979). Der Gedichtband als Ganzes ist eine lange Reise, die 1958 beginnt und bis mindestens 2016 reicht. Das Leben der Autorin, mit ihren Höhen und Tiefen, den Verlusten und der Trauer, aber auch des Mutes und der Dankbarkeit wird so ganz nahe, fast schon zärtlich, ein Teil des Lesers. Das geht an kaum einer Stelle so zu Herzen wie in dem letzten Eintrag, "Mutters Visionen" - alles fließt, alles ist vergänglich, doch nichts ist für immer fort ...

Gerrit Koehler 
21.08.2023

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Ursula Guthörl: Die Erde hängt an einem Faden

CMS_IMGTITLE[1]

Offenbach: August von Goethe Literaturverlag 2023 280 S., € 19,80 ISBN: 978-3-8372-2695-9

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.