Medien & Gesellschaft
(Fiktives) Interview mit einem Stoiker
Was hat ein Mensch, der vor 2000 Jahren lebte, der Menschheit im Jahre 2012 zu sagen? Viel! Wer das nicht glaubt, sollte sich einmal einige Stunden in seinem vollen Terminkalender freischaufeln und sich "Auf einen Wein mit Seneca" einlassen - gerne auch mit einem Glas Wein neben dem Lesesessel. Karl-Wilhelm Weeber, Altphilologe und Historiker, hat in der F?lle der Werke des r?mischen Philosophen, Staatsmannes und Dramatikers Lucius Annaeus Seneca (1 bis 65 n. Chr.) gest?bert und ist auf allerlei Themen gesto?en, die heute noch genauso aktuell sind, wie sie es im 1. Jh. n. Chr. waren.
In 50 fiktiven Kurzinterviews gibt Weeber einen Einblick in das Denken und Werk des Stoikers, der nicht nur Philosoph, sondern auch Staatsmann und Erzieher des sp?teren Kaisers Nero war. In einem Potpourri von Themen l?sst Weeber Seneca zu ?berzeitlichen und allgemeinmenschlichen Fragen zu Wort kommen. So "beantwortet" Seneca Weebers Interviewfragen ausschlie?lich mit Originalzitaten aus seinen unz?hligen Werken, z. B. "De brevitate vitae", "De vita beata" oder "Ad Lucilium epistulae morales". F?r den der lateinischen Sprache nicht m?chtigen Leser hat Weeber Senecas Worte auch ins Deutsche ?bersetzt.
Dass der r?mische Philosoph, der als Vertreter der Stoa bekannt war, Antworten auf Fragen wie "Wie nutze ich meine Zeit am besten?", "Wie gehe ich mit Krankheit und Tod um?" oder "Was bedeutet Freundschaft?" hat, verwundert nicht weiter. Dass er jedoch auch zu solch scheinbar nur unserer modernen Zeit anhaftenden Themen wie Mobbing, Komasaufen und B?rsencrash einen Rat wei?, der alles andere als staubig oder unpassend anmutet, mag den einen oder anderen Leser verwundern. Doch genau diese Einsichten sind es, die Weebers B?cher ?ber antike Kultur und Gesellschaft immer wieder so lesenwert machen. Der Altphilologe und Historiker hat die F?higkeit, einer breiten Leserschaft, die sich wahrscheinlich eher weniger mit Kulturgeschichte und Philosophie besch?ftigen w?rde, Autoren wie Seneca nahezubringen.
Selbstverst?ndlich ersetzt "Auf einen Wein mit Seneca" - will man sich intensiv mit Senecas Gedankenwelt auseinandersetzen - nicht die Besch?ftigung mit den einzelnen Werken, jedoch ist es ein Einstieg, der Appetit macht; Appetit darauf, doch einmal das eine oder andere Werk des R?mers zur Hand zu nehmen. Und im Gegensatz zu einigen anderen Anthologien, in denen lediglich Sentenzen und Bonmots zusammengestellt sind, bietet die Interviewstruktur von "Auf einen Wein mit Seneca" mehr Raum f?r Argumentationsg?nge. Aber trotzdem muss man nicht auf die typischen knappen Weisheiten verzichten: Am Ende einer jeden Interviewsequenz bringen Seneca und Weeber das Thema immer auf den Punkt.
Auch wenn die Zitate Senecas f?r die Zusammenstellung in einem Interview teilweise aus ihrem Kontext genommen wurden und Passagen gek?rzt werden mussten, so kann man sich als Leser doch vorstellen, dass diese Interviews zwischen Weeber und Seneca - w?rde der r?mische Philosoph heute leben - so h?tten stattfinden k?nnten. Definitiv eine tolle Idee, die mit viel Esprit und Herzblut umgesetzt wurde.
Sabine Mahnel
10.04.2012