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Die Bibel der Fußball-Weltmeisterschaften

Alle vier Jahre schaut die Welt einen Monat lang gebannt den besten Fußballern des Planeten zu, wie aus mittlerweile 32 Nationalmannschaften des Globus die erste unter ihnen gekürt wird. Diese und die zugehörige Nation dürfen sich fortan vier Jahre lang Weltmeister nennen und als solche fühlen. Deutschland war dieses Hochgefühl zuletzt Anfang der Neunziger Jahre vergönnt. Dennoch hatte die Leistung von Jogis Jungs im vergangenen südafrikanischen Sommer trotz des knapp verpassten Finals für eine enorme landesweite Begeisterung gesorgt. Dabei hatte das hochwertige Produkt "FIFA Fußball-Weltmeisterschaft" auch einmal klein anfangen müssen und war in seiner ersten Austragung 1930 in Uruguay vor allem von europäischer Seite noch mit großer Missachtung gestraft worden.

Über das vorliegende Buch sind in den vergangenen Jahren schon viele Superlative gestreut worden, insbesondere die Auszeichnung als "Standardwerk" kürt ein Werk über die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft zur allerersten Wahl für den interessierten Fußball-Fan. Inzwischen hat Dietrich Schulze-Marmeling jeweils im Nachgang zu WM-Turnieren mehrere Neuauflagen veröffentlicht, nach dem letztjährigen Gipfeltreffen in Südafrika die nunmehr fünfte aktualisierte Version. Beim Stöbern und Schwelgen in den Geschichten zu vergangenen Turnieren merkt man schnell, dass man ein Buch von Fußball-Fans für Fußball-Fans in den Händen hält.

In den vergangenen Jahren hat sich unter Büchern zu Fußball-Weltmeisterschaften - einmal abgesehen von der 2006 erschienenen Reihe in der SZ-Bibliothek - ein Trend breitgemacht, der mehr Wert auf Bilder und Fotos legt als auf Berichte und Zusammenfassungen in Textform. Die Ursache dafür liegt auf der Hand: Nach einer Fußball-Weltmeisterschaft möchte man schnellstmöglich die vorhandene Euphorie nutzen und ein Buch zum Turnier veröffentlichen. Reich bebildert und mit knappen Beschreibungen lässt sich dies heutzutage im Zeitraum von ein bis zwei Wochen relativ problemlos realisieren. Diesen Zeitdruck kennt das Werk von Schulze-Marmeling nicht. Auf den 80 Seiten zur Fußball-Weltmeisterschaft 2010 findet der Fußball-Fan mehr an fundierten Hintergrundinformationen als in allen Büchern zusammen, die im Schnellverfahren noch im Juli des vergangenen Jahres auf den Markt geworfen wurden.

Dennoch ist auch das vorliegende Buch trotz der entschleunigten Vorgehensweise nicht vor Fehlern gefeit. So wird auf Seite 605 das letztjährige Viertelfinale zwischen Paraguay und Spanien mit einem 1:0-Sieg für die Südamerikaner präsentiert. Angesichts des Partieverlaufs durchaus nicht unrealistisch, lässt dieser Fehler den hiesigen Fußballfreund kurzzeitig in "Was wäre wenn"-Denken verfallen und davon träumen, was möglich gewesen und passiert wäre, wenn der aktuelle Welt- und Europameister seine Zitterpartie im Viertelfinale verloren hätte. Wäre eventuell Bastian Schweinsteiger kürzlich zum Weltfußballer des Jahres gewählt worden und Joachim Löw als Weltmeistertrainer nicht auch konsequenterweise zum Welttrainer des Jahres ernannt worden? Abgesehen von diesem aus deutscher Sicht beinahe schon Freud'schen Fehler besticht das vorliegende Buch durch seine hohe fachliche Kompetenz und einen Detailgrad an Informationen, der Fußball-Fans viele schöne Stunden und etliche Aha-Erlebnisse verspricht.

In den einleitenden Kapiteln liefert Schulze-Marmeling eine Entwicklung des Weltfußballs im ausgehenden 19. Jahrhundert und den ersten drei Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts ab. Schließlich war die Ausrufung einer ersten Fußball-Weltmeisterschaft im Jahre 1930 im südamerikanischen Uruguay nur folgerichtig, allerdings in der Wahl des abgelegenen Landes am Rio de la Plata von den führenden europäischen Nationen auf großen Frust und zahlreiches Desinteresse gestoßen. Gemessen an der Seitenzahl, die Schulze-Marmeling den folgenden Turnieren widmet, wird schnell deutlich, dass Turnier für Turnier Interesse, Bedeutung und Umfang kontinuierlich im Wachstum begriffen waren, was auch die aktuelle, einem globalen Politikum gleichkommende Diskussion um die Vergabe der Turniere 2018 und 2022 nach Russland und Katar verständlich macht.

Während die drei Vorkriegs-Turniere jeweils nur mit 15 Seiten abgespeist werden, umfassen die Berichte zu den drei Turnieren dieses Jahrtausends zusammen mehr als 200 Seiten. Der Fokus liegt somit klar auf dem Hier und Jetzt bzw. den Erinnerungen an Turniere aus der nahen Vergangenheit. Jedes Kapitel wird mit einer einseitigen Zusammenfassung und den wichtigsten Daten und Fakten zum jeweiligen Turnier eingeleitet. Das Kapitel selbst versteht sich mehr als übergreifender Bericht denn als eine Ansammlung mehrerer Kurzberichte zu allen oder den wichtigsten Spielen. Im Anschluss an die bisherigen 19 WM-Turniere findet sich ein Lexikon der wichtigsten Protagonisten von A-Z, das auf 37 Seiten Kurzinformationen zu Spielern, Trainern und Funktionären bereithält. Des Weiteren sind Ergebnisübersichten über alle Endturniere und sämtliche vorangegangenen Qualifikationsturniere im Buch enthalten. Ein abschließender allgemeiner Statistikteil mit einigen wenigen Übersichten und Ranglisten ist leider etwas knapp gehalten. Hier besteht für kommende Auflagen sicherlich noch etwas Luft nach oben.

Dietrich Schulze-Marmelings "Die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft" ist für den wahren Fußball-Fan, der nach mehr Informationen verlangt als der alle zwei bzw. vier Jahre auf den Public-Viewing-Veranstaltungen auftretende Event-Fan, das absolute Nonplusultra. Auf dem deutschen Markt gibt es aktuell kein Werk, das Historie und Aktualität in einer derart hohen Detailtiefe darstellt wie das vorliegende Buch in seiner nunmehr fünften Auflage. Darüber hinaus ist der Preis für das ewige Vergnügen, das dem Leser mit diesem Buch beschert wird, mehr als fair. Man möchte Schulze-Marmeling nur wünschen, dass er diesem Standardwerk im Herbst 2014 ein weiteres Kapitel hinzufügen wird - vielleicht etwa mit einer einleitenden Überschrift "Jogis Sambatänzer lassen Maracanã in seinen Grundfesten erzittern"?

Christoph Mahnel
24.01.2011

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