Biographie

Polin in Paris

"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht ..." wird verkürzt ein Zitat zum Buchtitel einer Publikation über "Marie Curie - ihr Leben in Tagebüchern und Briefen". Die Autorin Christina Seidel, promovierte Chemikerin, ist eine Berufs- und Seelenverwandte der verehrten Wissenschaftlerin. Wer je die Selbstbiographie der Nobelpreisträgerin oder das vielgelesene Buch "Madame Curie" gelesen hat, das die jüngste Tochter verfasste, wird sich in der Gewissheit wiegen, genug über die gebürtige Polin zu wissen, die als französische Staatsbürgerin starb.

Welch ein Weg war aber dieser Lebensweg, der 1867 in Warschau begann und 1934 in Paris endete? Welcher Weg war es wirklich? Am Schluss des Buches gibt es ein ganzseitiges, doch mangelhaft reproduziertes Bild aus dem Sterbejahr der Curie. Mit den Unterarmen auf die Brüstung eines Balkons gestützt, schaut eine alte Grauhaarige ins Grüne. Eine Greise? Nur wer wirklich genau hinschaut, wird kein altes, welkes, sondern waches Gesicht sehen. Hinsehen muss man schon!

Genau hinsehen wollte auch Christina Seidel, um eine andere Art der Biographie, eine genauere zu schreiben. Seidel hat sich für die Form des fiktiven Tagebuchs entschieden. So persönlich zu werden ist immer riskant. Wagemut ist es nicht, zumal, wenn sich die Schreiberin dem Vorbild so vertraut fühlt. Die Vertrautheit, die aus Respekt gemacht ist, verführt nicht zu lautschreierischen Offenbarungen und Offenlegungen. Ein anderes Curie-Zitat, das die Biographin wiederholt in ihrer Publikation zitiert, wäre auch als Buchtitel geeignet gewesen: "Oberstes Prinzip: Sich nicht unterkriegen lassen, nicht von den Menschen und nicht von den Ereignissen." Das ausgemachte Lebensmotto ist zum Buchmotto gemacht worden und somit eine Verpflichtung für die Verfasserin.

Wann, wo und wie musste sich Marie Curie nicht unterkriegen lassen? Wurde nicht alles im Leben der Curie, wie sich's die Curie für ihr Leben wünschte? Die von ihr vorgelegte Selbstbiographie lässt daran kaum Zweifel. Das Mädchen mit dem beeindruckenden Gedächtnis, mit dem früh entwickelten Entdeckersinn, das sich (laut Seidel als Zwölfjährige) "ein Labor in Paris" wünschte, war als 31jährige, gemeinsam mit Ehemann Pierre, die Entdeckerin von "Polonium" und "Radium". Der noch junge Nobelpreis - keineswegs so populär wie heute - erreichte das junge Paar sofort. Und, was notiert die leidenschaftliche Forscherin: "Die Ehrungen und der Ruhm haben unser Leben vollständig ruiniert."

Was wollte sie denn nun, die Marie Curie? Was erwartete sie denn? Christina Seidel will die Geradlinigkeit im Wollen ebenso darstellen wie das Überraschtwerden durch die Schicksalsschläge, das Unerwartete und Unerwünschte im Privaten. Wenn man so will, dann gabs da einige weiße, flaue, kolorierte Flächen im Lebensbild der Curie. Man muss schon sehr interessiert sein an Marie Curie, um so ein "Tagebuch der Curie", für die Curie schreiben zu können. Geworden ist das einfühlsame Buch einer Wissenden, die keinen Altar für eine Wissenschaftlerin errichten wollte. Wie ein Mensch wird und wächst, der sein Menschenwerk auf seine menschliche Art tut, das deutlicher werden zu lassen, war wohl die vorrangige Absicht von Christina Seidel. Deshalb ist ihr Buch über eine Frau nicht ein deklariertes Frauenbuch. Und das ist auch gut so! "Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht ..." ist ein Buch, das eine Kollegin für eine Kollegin schrieb, wie das so kaum ein Mann könnte.

Bernd Heimberger
10.01.2011

 
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Das Buch:

Christina Seidel: "Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht ...". Marie Curie – ihr Leben in Tagebüchern und Briefen

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Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2010
255 S., € 12,90
ISBN: 978-3-89812-758-5

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