Biographie

Vier viel zu kurze Leben

Bei der schieren Anzahl an Opfern, die der Zweite Weltkrieg in unzähligen Ländern gefordert hat, verliert sich oft der Blick auf die dahinterliegenden Einzelschicksale. Man bekommt abstrakte Zahlen genannt und weiß seit dem Schulunterricht, dass wohl mehr als 60 Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten, fast die Hälfte davon auf russischer Seite, während Deutschland gut sechs Millionen Opfer zu beklagen hatte. Die wahre Tragweite und Tragik dieser sieben- oder achtstelligen Zahlen wird allerdings erst dann greifbar, wenn man den Blick auf die einzelnen Menschen dahinter richtet. Der Tod eines jeden Soldaten oder Zivilisten hat über das abrupte Ende eines Menschenlebens hinaus massive Auswirkungen auf die Umstehenden und Angehörigen, seien es die Eltern, die ihren Sohn verloren haben, oder Kinder, die fortan ohne ihren Vater groß werden müssen.

Viele Familien mussten darüber hinaus auch Häufungen von Einzelschicksalen hinnehmen, wie beispielsweise die Familie von Reinhold Beckmanns Mutter. Aenne Beckmann, geb. Haber, war zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs gerade volljährig geworden. Ihre drei älteren Brüder Franz, Hans und Alfons waren im besten Mannesalter, während für ihren sechs Jahre jüngeren Stiefbruder Willi der Krieg noch weit weg schien. Das karge Leben in Wellingholzhausen am Rande des Teutoburger Waldes war geprägt von Gottesfurcht und ganz viel Katholizismus. Auch der Umstand, dass Aennes leibliche Eltern bereits früh gestorben waren und sie fortan bei ihren Stiefeltern zusammen mit den beiden jüngeren Stiefgeschwistern aufgewachsen war, hatte Aennes Leben kein Zuckerschlecken sein lassen. Doch was der Zweite Weltkrieg schließlich mit ihr und vor allem ihren Brüdern noch vor hatte, hatte sie sich garantiert nicht in ihren schlimmsten Alpträumen vorstellen können.

Reinhold Beckmann, Jahrgang 1956, ist ein seit den Achtziger Jahren deutschlandweit bekannter Fußball-Kommentator, jahrelang war er das Gesicht der ARD-Sportschau. Auch über den Sport hinaus hat sich der Journalist als Talkshow-Gastgeber einen Namen gemacht. Seine Mutter Aenne, die im September 2019 im Alter von 98 Jahren verstorben war, hatte Beckmann kurz vor ihrem Tod ein Paket mit den Feldpostbriefen ihrer Brüder mit den Worten "Mach was draus!" überreicht. Doch nicht nur diese Briefe waren Quellen für Reinhold Beckmann, sondern auch schon die vielen Gespräche zuvor mit seiner Mutter. Zeit ihres Lebens war Aenne Beckmann nämlich in der Lage, über den Verlust ihrer Brüder und über die Entbehrungen des Krieges zu sprechen, ganz anders als viele andere Menschen, die nicht anders konnten, als beharrlich zu schweigen, und so innerlich von den Traumata des Krieges aufgefressen wurden.

Herausgekommen ist nach mehr als einem Jahr intensiven Arbeitens das vorliegende Buch "Aenne und ihre Brüder". Reinhold Beckmann hat den Auftrag seiner Mutter ernst genommen und eindrucksvoll umgesetzt. Er beginnt seine Familienerzählung in den Zwanziger Jahren im erzkatholischen Wellingholzhausen. Der Broterwerb für Aennes Eltern ist beschwerlich, der Kirchgang am Sonntag Pflicht, dafür werden Schnaps und Bier gerne gereicht und getrunken. Schon früh in jungen Jahren müssen Aenne und ihre Brüder Ausschau halten, wie sie später einmal gedenken, ihr Leben bestreiten und ihr Auskommen sichern zu wollen. Der Kriegsbeginn stoppt die Lebenspläne von Franz, Hans und Alfons jedoch abrupt. Abgesehen von ein paar wenigen Heimaturlauben beschränkt sich der Austausch auf unregelmäßig zugestellte Feldpost und kleine Geschenkpakete. Viele Geburtstage und Weihnachtsfeste feiern die Geschwister in Sorge und getrennt voneinander. Mit dem Ausbleiben von Feldpostbriefen steigert sich die Ungewissheit jedes Mal Tag für Tag ins Unermessliche, bis nicht nur einmal klar wird, dass das Schicksal zugeschlagen hat und ein geliebter Bruder nicht mehr zurückkehren wird.

Reinhold Beckmanns chronologische Erzählung, die sich schwerpunktmäßig auf die Jahre von 1921 bis 1945 erstreckt, geht unter die Haut. Sie liefert einen Einblick in eine deutsche Familie, für die der Krieg zur Zäsur ihres Lebens werden sollte. Doch bei aller Trauer um die Brüder ist "Aenne und ihre Brüder" in allererster Linie ein Buch, das Hoffnung macht, da Beckmanns Mutter Aenne zeigt, wie man ein Leben trotz vieler Rückschläge gut meistern kann. Sie nahm alle Widrigkeiten an und machte stets das Beste daraus. Die Einbettung der Familiengeschichte in die Kriegsentwicklungen und unselige Propaganda der Nationalsozialisten ist Beckmanns Stilmittel, um die Unsinnigkeit des Krieges offensichtlich zu machen. Intimität erzielt er durch die zahlreichen Briefe der Brüder, in denen diese ihre Gedanken und Gefühle frierend, hungernd und erschöpft meist irgendwo in Russland zu Papier gebracht hatten. "Aenne und ihre Brüder" ist ein wichtiges Buch für Deutschland und sollte angesichts besorgniserregender gesellschaftlicher Entwicklungen im Hier und Jetzt von allen Menschen gelesen werden.

Christoph Mahnel 
23.10.2023

 
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Das Buch:

Reinhold Beckmann: Aenne und ihre Brüder. Die Geschichte meiner Mutter

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Berlin: Propyläen Verlag 2023 352 S., € 26,00 ISBN: 978-3-549-10056-1

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