Biographie

Wie aus dem kleinen „Dico“ der große „Pelé“ wurde

Als sich das Interesse des Fußballs noch auf die heimische Region fokussierte und sich der Blick lediglich alle vier Jahre zur Fußball-Weltmeisterschaft auf die besten Mannschaften des Erdballs richtete, reifte im fernen Brasilien ein Junge zum Mann heran, der bei seiner ersten WM-Teilnahme 1958 in Schweden als Siebzehnjähriger die Massen begeisterte und schließlich zum ersten großen Weltstar des Fußballs avancierte. Die Rede ist natürlich von Edson Arantes do Nascimento, besser bekannt als "Pelé". Viele Fußball-Fans außerhalb Südamerikas kannten damals dessen Kunst am Ball viele Jahrzehnte vor Youtube und Tiktok nur vom Hörensagen. Live-Übertragungen von Fußballspielen gab es hierzulande noch lange nicht, selbst Zusammenschnitte von Pelé mit dem FC Santos oder der brasilianischen Fußball-Nationalmannschaft hatten Seltenheitswert. Dennoch war ihm der Ruf über seine Klasse auf dem ganzen Erdball vorausgeeilt und hatte ihn, den "König des Fußballs", zum Allerbesten seines Fachs erkoren.
Als einziger Spieler in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften durfte Pelé den Weltpokal dreimal in die Höhe recken. Mehr als 1.000 Tore erzielte er für den FC Santos, Cosmos New York und die "Seleção". Bei aller Wertschätzung der Rekorde von Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo besitzen die Zahlen Pelés völlig andere Dimensionen. Bedenkt man den Umstand, dass mangels entsprechender Sanktionen seinerzeit Stürmer der Güteklasse Pelés noch Freiwild auf dem Platz waren, mag man sich kaum ausmalen, welche Ergebnisse Pelé heutzutage erzielen würde. Das vergangene Jahrhundert war vielleicht einmal abgesehen von Maradona fußballerisch geprägt von Pelé, der wenig überraschend im Jahre 1999 von der FIFA zum "Spieler des 20. Jahrhunderts" gewählt worden war. Doch am drittletzten Tag des vergangenen Jahres hat Pelés Herz aufgehört zu schlagen und eine ganze Nation in Staatstrauer versetzt.

Nach Pelés Ableben ist die vorliegende Würdigung seiner Karriere nur folgerichtig. Der französische Autor und Journalist Stéphane Cohen hat sich dieser Herausforderung gestellt und zu Beginn des Jahres eine umfassende Biografie vorgelegt. Mit ein wenig zeitlichem Versatz ist nun auch eine deutsche Übersetzung beim Verlag Die Werkstatt erschienen. Auf knapp 350 Seiten wird das außergewöhnliche Leben Pelés chronologisch abgeschritten. Über die weitgehend bekannte Periode des aktiven Fußballers hinaus blickt der Autor auch auf das Leben davor und danach. Er recherchierte die Kinder- und Jugendjahre Pelés und förderte dabei zu Tage, wie der kleine "Dico" irgendwann seinen späteren Künstlernamen "Pelé" erhielt, obwohl er diesen Namen anfangs überhaupt nicht mochte. Cohen betrachtet auch kritisch Pelés weiteres Wirken als Politiker und brasilianische Lichtgestalt bis zu seinem Tode vor knapp einem Jahr.

Das vorliegende Buch glänzt vor allem damit, dass Stéphane Cohen kein posthumer Claqueur ist, der - was durchaus einfach wäre - Pelé ob dessen Erfolge und Leistungen in den Himmel hebt. Nein, der Autor setzt sich vielmehr differenziert mit den Meinungen über Pelé auseinander und zeichnet dabei ein Bild mit Licht und Schatten. Zwar lag Pelé, wie dieser stets betonte, das Wohl der brasilianischen Kinder am Herzen, doch so ganz hatte er sein Handeln darauf auch nicht unbedingt ausgerichtet. Pelé besaß durchaus egomane Züge, die insbesondere in seiner steten Untreue gegenüber Ehefrauen und Partnerinnen zum Ausdruck kamen. Auf dem Platz brach sein Temperament hin und wieder aus ihm heraus, wenn er mit Tätlichkeiten auf die vielen Fouls an ihm reagierte. Pelé war sicherlich keiner, der im biblischen Sinne noch seine zweite Wange hinhielt, was den Fußballfreund Vergleiche mit einem gewissen Zinédine Zidane ziehen lässt.

Ein tiefschwarzes Cover ziert "Pelé. Die Biografie", das als gebundene Ausgabe zum stattlichen Preis von 34,90 Euro daherkommt. Da die allermeisten Menschen der Gegenwart Pelé selbst nicht mehr live haben spielen sehen, besticht diese Biografie vor allem dadurch, den Leser in den Fußball aus einer vergangenen Zeit zu entführen. Cohens Ausführungen machen deutlich, dass Pelés Verehrung, die ihm in Brasilien für seine Erfolge widerfahren ist, nicht die gottgleichen Ausmaße eines Maradonas in Argentinien erreicht hatte. Dennoch bleiben verbunden mit dem Namen "Pelé" Rekorde für die Ewigkeit, von denen der junge "Dico" als Schuhputzer am Bahnhof womöglich nur geträumt haben durfte.

Christoph Mahnel 
09.10.2023

 
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Das Buch:

Stéphane Cohen: Pelé. Die Biografie. Aus dem Französischen von Sandra Wisniewski

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Bielefeld: Verlag Die Werkstatt 2023 352 S., € 34,90 ISBN: 978-3-7307-0665-7

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