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Neue Familienromane: Die Suche nach den Wurzeln geht weiter

Hamburg (dpa) - Die Neuerscheinungen in diesem Frühjahr zeigen, dass der Familienroman weit mehr sein kann als Trivialliteratur, der er so oft zugeordnet wird. Die historischen Verwerfungen vor dem Hintergrund der Kriege und Konflikte der vergangenen hundert Jahre spiegeln sich in vielen der neuen Familiengeschichten wider, in denen sich die Nachgeborenen auf die Suche nach ihren Wurzeln machen und in einer neu formierten Welt zurecht finden müssen.

Mit großer Würde erzählt Irfan Orga in seinem seit 1950 immer wieder neu aufgelegten Klassiker «Das Haus am Bosporus» vom Absturz einer großbürgerlichen türkischen Familie in die Verarmung als Folge des Ersten Weltkrieges. Der Spanier Ignacio Martinez de Pisón erzählt die Geschichte von Raffaele, der im spanischen Bürgerkrieg bei den Rechten kämpft und ein Doppelleben mit zwei Familien führt. Im Roman «Milchzähne» verknüpft er das Geheimnis dieses Mannes mit 50 Jahren spanischer Geschichte.

Der Autor Dave Boling ist Amerikaner mit baskischen Wurzeln. Sein Buch «Der Tanz der Freiheit» beschreibt das Leben der baskischen Bauernfamilie Ansotegui, die arm aber glücklich ist und sich vor den Schrecken des Krieges sicher wähnt, bis im April 1937 das Inferno über sie hereinbricht: die Bombardierung Guernicas durch deutsche Fliegerverbände.

Das Massaker im Sommer 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking veranlasst Nan Wu und seine Frau, in Amerika zu bleiben. «Ein freies Leben» des Chinesen Ha Jin, der heute in den USA lebt und der unter anderem mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, begleitet die junge Familie zwölf Jahre bei ihrem Versuch, in der neuen Heimat ihren Platz zu finden.

Um das Vertriebensein und Sich-Neu-Erfinden dreht sich auch der neue Roman der gebürtigen Kasachin Eleonora Hummel, «Die Venus im Fenster». Eine russlanddeutsche Familie siedelt in den achtziger Jahren in das vermeintlich Gelobte Land, die damalige DDR über. Die Realität dort sieht jedoch völlig anders aus und ändert sich noch einmal, als Ende der achtziger Jahre die Mauer fällt. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Alina, die zur russischen Deutschen wird und zu sich selbst findet.

1940 schließen ein Deutscher und eine Holländerin die Ehe, genau am Tag des Angriffs der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande. Der holländische Autor Hans Münstermann lässt in seinem Roman «Das glückliche Jahr 1940» den Sohn Andreas sechzig Jahre später auf einer Familienfeier nach den Geschehnissen von damals fragen, die bis in die Gegenwart die Familie so nachhaltig prägen.

In einer Tragödie endet ein glücklicher Familientag im Buch der Holländerin Renate Dorrestein «Ein Herz aus Stein». An diesem Tag waren nämlich Ellens Eltern und ihre Geschwister gestorben. Jahrzehnte später tastet sich die Frau durch den Kauf des Elternhauses an diese traumatische Kindheitserinnerung heran, um endlich Frieden und Vergebung zu finden.

«Rückkehr nach Missing» ist die erzählerisch kraftvolle Geschichte der in Addis Abeba elternlos aufwachsenden Zwillingsbrüder Marion und Shiva, die sich lieben, alles teilen, auch ihre Liebe zur Medizin, bis sie sich wegen einer Frau entzweien. Der Roman des Arztes und Autors Abraham Verghese handelt vom Leiden und Heilen, von Liebe und Verrat, also universellen Themen, und spannt den Bogen von Afrika nach Amerika.

Zwei Welten verbindet auch die Französin Véronique Olmi in ihrem Roman «Die Promenade». Dessen Heldin lebt in Nizza. Ihre Seele aber ist im zaristischen Russland geblieben. Die Romanows, Rasputin und Tschechow sind ihr realer als ihre eigene Tochter. Eine anrührende Geschichte von der Liebe einer Großmutter zu ihrer Enkelin, und von Mythen die helfen, zu überleben.

Die politischen Wirren von Kulturrevolution und Vietnamkrieg markieren 1967 das Ende der Kindheit von Kate und Frankie, die die beiden bislang, wie in einem Kokon lebend, in Hongkong verbracht haben. Packend beschreibt die amerikanische Autorin Alice Greenway in ihrem Erstling «Weiße Geister» die tropische Atmosphäre Hongkongs, lässt geradezu dessen Geräusche und Gerüche aus den Buchseiten aufsteigen, und führt den Leser auf das traumatische Ereignis hin, das das Leben der Schwestern verändert.

Als ihre geliebte Tante Eva eines mysteriösen Todes stirbt, kehrt Towner nach langer Zeit in ihre Heimatstadt in Neuengland zurück und sieht sich mit längst vergessenen und verdrängten Tragödien konfrontiert: So der Plot eines Familienromans der amerikanischen Autorin Brunonia Barry, zuerst im Eigenverlag publiziert und nun unter dem Titel «Die Mondschwimmerin» auch in Deutschland erschienen.

«Alles ist nicht genug» lautet der beziehungsreiche Titel des US-Bestsellers von Janelle Brown: Drei Frauen, Janice und ihre beiden Töchter, erzählen vom Auseinanderfallen ihrer Familie und entlarven in dieser ätzend sozialkritischen Geschichte die Scheinheiligkeit der Kaste der Reichen in den USA.

Drei Frauengenerationen umspannt der neue Roman der englischen Schriftstellerin Penelope Lively «Wechselspiele». Wie Großmutter, Mutter und Enkelin eigenwillig und dickköpfig ihr Leben meistern, wird von Lively wie immer präzise und mit feiner Ironie erzählt. Das Buch zeigt auch, welch großen Umwälzungen England seit den dreißiger Jahren unterworfen war.

Um düstere Familiengeheimnisse geht es im Roman «Wo dein Herz zuhause ist» der Irin Anna Mc Partlin: Zum zweiten Mal verweigert Harri den Gang vor den Traualtar. Sie weiß nicht, warum sie, statt mit Begeisterung in den Stand der Ehe zu treten, mit Panikattacken reagiert. Aber ihre Eltern ahnen den Grund und entschließen sich, ihrer Tochter die Wahrheit zu sagen.

«Familienpause», der neue Roman von Annie Sanders aus England, schildert mit leichter Feder und zugleich großem Ernst die Krise einer Frau um die 40, die nach dem Tod ihrer Mutter ihrer eigenen Endlichkeit gewahr wird, sich eine Auszeit in Frankreich nimmt und prompt einen Verehrer hat, der aber nicht ist, was er zu sein scheint.

Anne B. Radge hat mit «Hitzewelle» den letzten Band ihrer Trilogie um die norwegische Bauernfamilie Neshov vorgelegt. Die erfolgreiche Familiensaga über Geburt und Tod, Schmerz und Freude im Leben der Menschen auf einer Schweinefarm wurde in Norwegen bereits verfilmt. Der letzte, nicht ganz so leicht geschriebene Teil schildert, wie sich die junge Torunn von ihrer Familie und dem Hof loslöst, und damit ihr eigenes und das Leben ihrer Familie verändert.

Der Ich-Erzähler in «Überm Rauschen» von Norbert Scheuer kehrt nach Jahren in die Eifel zurück. Wenn er am Fluss steht, kommen und gehen mit dessen Dahinfließen die Erinnerungen an den toten Vater und den verrückt gewordenen Bruder. Eine melancholische, stark von der Landschaft geprägte Erzählung. Für einen Ausschnitt aus dem Roman erhielt der Autor den 3sat Preis im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs.

Nach ihrem Bestseller «Urlaub mit Papa» hat Dora Heldt eine weitere heitere, völlig unmelancholische Familiengeschichte
geschrieben: In «Tante Inge haut ab» verlässt die Titelheldin mit 60 Jahren nach 40 Jahren Ehe ihren Mann. Damit nicht genug: Sie leistet sich Affären, säuft und scheint sich prächtig zu amüsieren.

 

Brunonia Barry: Die Mondschwimmerin
btb, München
480 S., 19,95 Euro
ISBN 978-3-442-75215-7

Dave Boling: Der Tanz der Freiheit
Droemer, München
474 S., 19,95 Euro
ISBN 978-3-426-19833-9

Janelle Brown: Alles ist nicht genug
Heyne, München
496 S., 19,95 Euro
ISBN 978-3-453-29058-7

Renate Dorrestein: Ein Herz aus Stein
Bertelsmann, München
272 S., 26.95 Euro
ISBN 978-3-570-10002-8

Alice Greenway: Weiße Geister
Mareverlag, Hamburg
220 S., Euro 19.90
ISBN 978-3-86648101-5

Dora Heldt: Tante Inge haut ab
dtv, München
340 S., 12,90 Euro
ISBN 978-3-423-24723-8

Eleonora Hummel: Die Venus im Fenster
Steidl, Göttingen
217 S., 18 Euro
ISBN 978-3-86521-878-0

Ha Jin: Ein freies Leben
Ullstein, Berlin
637 S., 24,90 Euro
ISBN 978-3-550-08723-3

Penelope Lively: Wechselspiele
Bertelsmann, München
336 S., 19,95 Euro
ISBN 978-3-570-01098-3

Anna McPartlin: Wo dein Herz zuhause ist
Rowohlt, Reinbek
480 S., 8,95 Euro
ISBN 978-3-499-25225-9

Ignacio Martínez de Pisón: Milchzähne
Hoffmann und Campe, Hamburg
383 S., 19,95 Euro
ISBN 978-3-455-40151-6

Hans Münstermann: Das glückliche Jahr 1940
dtv, München
298 S., 14,90 Euro
ISBN 978-3-423-24724-5

Véronique Olmi: Die Promenade
Kunstmann, München
238 S., 18,90 Euro
ISBN 978-3-88897-552-3

Irfan Orga: Das Haus am Bosporus
Arche, Hamburg
512 S., Euro 24,90
ISBN 978-3-7160-2604-5

Anne B. Ragde: Hitzewelle
btb, München
320 S., 17,95 Euro
ISBN 978-3-442-75225-6

Annie Sanders: Familienpause
Rowohlt, Reinbek
464 S., 8,95 Euro
ISBN 978-3-499-24998-3

Norbert Scheuer: Überm Rauschen
Beck, München
167 S., ca. 17,90 Euro
ISBN 978-3-406-59072-6

Abraham Verghese: Rückkehr nach Missing
Insel Verlag, Frankfurt
771 S., 24,80 Euro
ISBN 978-3-458-17450-9

 
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