Romane

Road-Trip nach Wembley

Im Juni 1996 spielt sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft in England in einen Rausch. Trotz abhandengekommener fußballerischer Qualität und zunehmendem Verletzungspech schlagen sich Bertis Jungs wacker. Zunächst wehren sie den Ansturm der giftigen Kroaten ab, bevor sie dann in einem Jahrhundertspiel die hoffnungsfrohen Engländer in deren Fußball-Kathedrale auf die bitterste Art vom Elfmeterpunkt scheitern lassen. Der Finalsieg über die Tschechen ist auch mehr als ein Vierteljahrhundert später vor allem wegen des bedeutendsten Golden Goals der Fußballgeschichte immer noch im nationalen Bewusstsein verankert. Während also die Nationalmannschaft und mit ihr hierzulande eine ganze Fußballnation im Fieber sind, haben ein paar Jugendliche an der Ostsee ganz andere Sorgen.

Tobi hat nach der Abreise seiner Eltern in den Urlaub zwei Wochen lang sturmfreie Bude und will dies nutzen, um endlich mit seiner Freundin Lisa zu schlafen. Doch sein Kumpel Scholzen nervt enorm und stört die traute Zweisamkeit prompt, indem er sich im Haus von Tobis Eltern einquartiert. Zudem macht Lisas großer Bruder den beiden gewaltigen Stress. Tobi hat er auf dem Kieker wegen Lisa und Scholzen wegen seiner eigenen Freundin, die sich nach einer Fete ungeniert an Scholzen hängt. Das Chaos komplettiert schließlich Georg, der bei seinem Vater, einem mäßig erfolgreichen Fahrschullehrer, aufwächst und zugleich Lisas bester Freund ist. Georg glaubte nämlich jahrelang, dass seine Mutter tot sei, doch nun erhält er die Nachricht, dass sie sterbenskrank in einem englischen Krankenhaus liege. Ehrensache, dass sich die vier ungleichen Jugendlichen Tobi, Lisa, Scholzen und Georg umgehend auf den Weg nach England machen.

Der Trip in einem spontan geliehenen Fahrschulauto aus dem beschaulichen Holstein über den Kanal nach England kommt einem Himmelfahrtskommando gleich. Ohne Geld und ohne Erlaubnis der Eltern müssen die vier Jugendlichen etliche Abenteuer und Wagnisse bestehen, um rechtzeitig auf die Insel übersetzen zu kennen. Denn die Zeit drängt: Für Scholzen, da der Anpfiff des EM-Finalspiels im Wembley-Stadion immer näher rückt, und vor allem für Georg, der nicht weiß, wie lange seine Mutter noch am Leben sein wird. Der Road-Trip wird für alle Beteiligten zu einer Extremerfahrung und am Ende versteht jeder den anderen viel besser, da so manche tiefliegenden Traumata auf der Reise aufgearbeitet werden müssen. Der Wettlauf mit der Zeit gipfelt letztlich in einem äußert chaotischen Sonntag, den 30. Juni 1996.

Manuel Butt hat mit dieser sportlich bedeutsamen Woche zwischen Viertelfinale und Finale der "EURO 96" einen wunderbaren Hintergrund für seinen Debütroman "Zierfische in Händen von Idioten" ausgewählt. Bislang war Butt als Fernsehmann in Erscheinung getragen, als Schreiberling für Comedy-Institutionen wie Bastian Pastewka oder die "heute-show". Diese Grundfärbung kommt auch im vorliegenden Buch deutlich zur Geltung, doch schlägt der Autor auch viele nachdenkliche Saiten an und arbeitet diese im Feuerwerk skurriler Gags und Begebenheiten sehr gut heraus. Jeder der Jugendlichen hat seine schmerzhaften Erfahrungen mit dem Leben machen müssen und diese bis heute mehr oder weniger gut verarbeitet. Den Lachern stellt Butt somit auch den einen oder anderen trüben Gedanken in den Weg.

Grundsätzlich sollte man sich als Leser von "Zierfische in Händen von Idioten" aber darüber bewusst sein, ein Buch in Händen zu halten, das bei unsachgemäßer Nutzung im öffentlichen Raum für peinliche Momente sorgen kann, wenn man nämlich beispielsweise im Bus oder der S-Bahn lauthals vor sich hin prusten muss. So zum Beispiel bei der Tragödie um die im Titel des Buches erwähnten Seepferdchen, die Tobi von seinen Eltern während ihres Urlaubs anvertraut worden waren, oder bei der kläglich scheiternden Umsetzung von Tobis großem Verlangen. Der Debütroman von Manuel Butt liefert auf knapp 350 Seiten allerbeste Unterhaltung, und wenn man dann auch noch Fußball-Fan ist und in den neunziger Jahren selbst Sturm und Drang durchlitt, gibt es keinen Weg vorbei an diesem Buch.

Christoph Mahnel 
24.04.2023

 
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Das Buch:

Manuel Butt: Zierfische in Händen von Idioten

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Zürich: Kein & Aber 2023 348 S., € 24,00 ISBN: 978-3-0369-5003-7

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