Erzählbände & Kurzprosa

"Phil Collins goes Classic"

Herta Müller spricht in ihrem Eröffnungsplädoyer zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2004 von der Verdichtung der Erfahrung im künstlerischen Wort, vom sogenannten "Augenhunger". Das dahinter stehende Credo, das ein Gesetz des Schreibens wiedergibt: "Nur durchs Erfinden wird die erlebte Wirklichkeit auf die Wahrheit zurückgezwungen." Es ist der höchst mögliche Anspruch an Literatur, den Herta Müller mit ihrem Text "Die Anwendung der dünnen Straßen" formuliert. Er ist die Messlatte, der sich die Wettbewerbsteilnehmer soweit wie möglich annähern sollen.

Den Bachmann-Preis bekam bereits im ersten Wahldurchgang Uwe Tellkamp mit seinem Romanauszug "Der Schlaf in den Uhren" zugesprochen, dessen atemlose Straßenbahnfahrt durch Zeiten und Räume Dresdens die Kritiker vor Lob nur so übersprudeln ließ. Die Presse, die in einem eigenen Teil am Ende des Buches zu Wort kommt, weist hier nicht ganz zu Unrecht auf "literarische Elterninstinkte" der Jury hin, die sich von den Hofmannsthal-Zitaten aus dem Rosenkavalier angesprochen fühlte: "Achtung! Hier geht es um Sein und Zeit." Der Tagesspiegel urteilt über diesen Text abschließend: "Phil Collins goes Classic." Den Jury-Preis erhielt Arne Roß für seine wunderbare Alterselegie "Pauls Fall". Der Autor fühlt minutiös den Wahrnehmungsprozess eines alten Mannes nach; daraus enstehen kleine Stilleben wie herabfallende Herbstblätter, die sich lautlos in die Mulde des Gedächtnisses legen. Es ist ein Text, in dem sich, wie die Jury in der anschließenden, abgedruckten Diskussion bemerkt, durch "sachliche Empathie" (Klaus Nüchtern) auszeichnet. Den 3Sat-Preis erhielt Guy Helminger mit der verstörenden Einsicht in die Gedankenwelt eines Stalkers: "Pelargonien", den Ernst-Willner-Preis Simona Sabato mit einem Romanbeginn, der erst nach ausgiebiger Diskussion die Gemüter für sich einnehmen konnte, den Kelag-Publikums-Preis schließlich Wolfgang Herrndorf mit der Berliner Hinterhofballade "Diesseits des Van-Allen-Gürtels". Ebenfalls preiswürdig, jedoch leider nicht bedacht, Roswitha Harings "Das halbe Leben". Ihre Jugendstudie, in der ein junges Mädchen sich zwanghaft das Motto "Ordnung ist.." zu Eigen macht, um nicht an ihm zugrunde zu gehen, fand nur bei Martin Ebel Anklang.

Lobenswert ist die Vielfalt der eingereichten Texte – Ermüdungserscheinungen wie beim diesjährigen Bachmannwettbewerb werden bei der Nachlese des Vorjahres jedenfalls nicht auftreten. Iris Radisch spricht im Vorwort davon, dass die "literarischen Welten", die hier aufeinander prallen, unterschiedlicher nicht sein könnten, und darin darf man der Vorsitzenden des Wettlesens allemal Recht geben.

Nicole Stöcker
07.08.2005

 
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Das Buch:

Iris Radisch (Hrsg.): Die Besten 2004. Klagenfurter Texte

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München, Zürich: Piper 2004
269 S.
ISBN: 3-492-04648-7

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