Erzählbände & Kurzprosa

Aufmerksame Gleichgültigkeit

Was will sie eigentlich, die Protagonistin aus der Titelgeschichte ?Komm?? Eben noch jammert sie, dass ihr Freund, der ?s??e Welpe? Ljapa, ? sie haben sich beim Chatten kennen gelernt, sogar ?virtuell geheiratet? ? ihr in der Echtwelt nicht mit ebenso viel Engagement den Hof macht wie online ? zupp, hat sie sich in den ?s??en Rapper? Niger mit den sch?nen H?nden verguckt. Doch der will nichts von ihr, der Weg zu ihr durch die ganze Stadt sei ihm zu weit. Also doch Ljapa? Oder lieber Denja? Der scheint zumindest wirklich an ihr interessiert. Aber er ist so ein total kaputter Typ! War als Soldat in Tschetschenien. Die Ich-Erz?hlerin ist fasziniert. ?In seinen Augen lag totaler Null-Bock. Was auch mit dieser Welt geschieht ? er schaut nur zu, steckt seine H?nde in die Hosentaschen und geht seiner Wege.? (S. 20) Und Denja hat echt krasse Ansichten: ?Ich will in den Krieg. Damit ich dort umkomme. Aber richtig.? (S. 31) Nein, dann lieber doch noch mal zur?ck zu Ljapa. Der spielt mit seinen Freunden Sam, Witja und Craze in einer Band und hat sie zu einem Konzert eingeladen. Richtig w?sten Punk.

?In meinem Bauch rumpelte und dr?hnte es. Die Musik ging durch mich hindurch, keiner meiner Gedanken blieb, und deswegen str?mte Freude aus meinen Augen. Ich war durchl?ssig. Ohne Widerst?nde.

(...)
Da fing Craze an zu kr?chzen:
Komm! ... Komm! ... Komm an die Sonne!!!
Komm! ... Komm! ... Komm ans kalte Wasser!!!
Die Menge fing an zu h?pfen und zu schreien, verstr?mte Energie, und ich wurde vor Gl?ck fast wahnsinnig. Ein Gl?cksgef?hl im Konzert: Alle um dich herum sind wie einer, durch alle schreit es ?Komm! ... Komm! ... Komm!? A-a-a-ahh!!!
Alles andere ist unwichtig.? (S. 34/35)

?Komm? ist das Zauberwort, das die Personen in Irina Dene?kinas Erz?hlband, die alle der russischen next generation entstammen, vereint: die Sehnsucht danach, allzeit willkommen, erw?nscht zu sein. ?Komm? wollen sie alle h?ren, egal ob von den Jungen oder M?dchen, in die sie verknallt sind, der Freundin, dem Freund oder Fremden. Nur die Eltern sind unerw?nscht und l?stig. Allein die Peergroup z?hlt. ?Komm!?: ins Boot, ins Leben, in meine Arme oder auch einfach nur neben mich. Nur nicht einsam sein oder gar langweilig. Um der ?Rumpelkammer im Kopf? (S. 24) zu entgehen, treten sie forsch die Flucht nach vorn an, denn im Grunde sind sie alle gleich konfus und ziellos. Sie machen eine richtige Sause mit der Clique, betrinken sich bis zur Besinnungslosigkeit, testen Drogen und Sex, nehmen Gewalt hin, h?ren laut dr?hnende Musik in der vor Zigarettenqualm stehenden Luft eines Hinterhofklubs. Das alles ist ganz ?normal? ? nicht ?toll?, nicht ?cool?, sondern einfach normal. Vielleicht hilft es ihnen tats?chlich, mit der ganzen Palette an Gef?hlen, Gef?hlswallungen, die sie ebenso heftig wie widerspr?chlich ?berfallen, fertig zu werden. Olesja ?ber Walerotschka in der gleichnamigen Geschichte: ?Sie wusste nicht, ob ihr dieser unansehnliche H?nfling gef?llt oder ob sie ihn abscheulich findet. Gleichzeitig h?tte sie seine leicht ge?ffneten Lippen k?ssen und auf diese Lippen mit irgendeinem dreckigen Klotz einschlagen m?gen.? (S. 119)

Auf und ab, hin und her ? und dann auch noch im Kreis herum: Mit Dene?kinas Erz?hlungen wird man voll in die Karussellgeisterachterbahn des Erwachsenwerdens geworfen. Beim Lesen muss man sich geradezu festhalten, so flott geht die Fahrt. Die Ich-Erz?hlerin aus ?Komm? samt aller Jungentrabanten, die sie umschwirren, mal n?her, mal weiter entfernt, mal ganz nah, wird ebenso getrieben wie Wasja, Oleg, Olesja oder Walerotschka. Alle sind sie ?crazy?, aufgeputscht durch Alkohol, Drogen und laute Punkrockmusik ? und dann wieder so unendlich verletzlich, unsicher, den eigenen Gef?hlen hoffnungslos ausgeliefert, die ungreifbar, unbegreifbar, aber immer pr?sent sind.

Die Autorin, selbst Jahrgang 81, vermittelt gekonnt alle Facetten dieses Wirrwarrs, ihre N?he zur fokussierten Gruppe ist deutlich zu sp?ren, zumal die Sprache viel aus der Halbw?chsi­gen­idiomatik sch?pft, der Erz?hlfaden geht ihr aber nie verloren. So vermag sie das Feeling dieser Altersgruppe, welche die Welt ?mit einer Art aufmerksamer Gleichg?ltigkeit? (S. 171) betrachtet, das Nebeneinander von ?u?erem Coolsein und innerem Brennen einzufangen und ebenso expressiv-empfindsam wiederzugeben. Leichtf??ig, authentisch, unkompliziert, ganz ohne intellektuelle Knitterfalten, aber mit viel Tiefe und erfrischender Lebendigkeit erz?hlt, sind die Geschichten wie ein Jungbrunnen, in den man eintaucht und sich verliert. Als Folge k?nnte bei Lesern jenseits der Adoleszenz ein Dilemma geweckt werden: die ebenso heftige Sehnsucht nach wie Erleichterung ?ber die ?berwindung dieser grandiosen ereignis- wie problemreichen, immer wachen, von Unsicherheit wie Leichtigkeit gepr?gten Zeit.

dgk
27.09.2003

 
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Das Buch:

Irina Denezkina: Komm

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Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2003
256 S., € 17,90
ISBN: 3-10-043100-6

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