Erzählbände & Kurzprosa

Identitätskrise. Zu Gao Xingjians „Die Angel meines Großvaters.“

Auf einer stark befahrenen Straße in einer chinesischen Stadt kommt es zu einem Zusammenstoß zwischen einem Bus und einem Fahrrad, bei dem der Radfahrer sein Leben lässt. Die Polizei wird gerufen, Zeugen werden gefragt. Schnell verschwindet das eigentliche Geschehen aus dem Blickfeld, verdrängt von Mutmaßungen und Gerüchten über die Umstände und Deutungen des Lebens selbst. Der Getötete hingegen bleibt anonym und unbeachtet. In der Nacht beseitigt eine Kehrmaschine die letzten Reste seines Blutes. - Lange hatte er auf diesen Moment gewartet, den Augenblick, in dem er sie endlich wiedersehen würde. Nun, nach Jahren des Träumens, sitzt er ihr endlich in ihrem Büro gegenüber. Er will ihr sagen, dass es damals seine Schuld war, die Schwierigkeiten, die ihr aus dem gemeinsamen politischen Engagement während der Studentenzeit erwachsen waren. Erinnern will er sich gemeinsam mit ihr, an vergangenes vereintes Leben. Doch sie hat ihn vergessen. Zehn Minuten dauert ihr Gespräch, dann ist ein lebenslanger Traum ausgeträumt. - Bücher, Studium, Schriftsteller-Karriere. Nichts war wichtiger, nicht die eigenen Wurzeln, Eltern und Familie. Als die Mutter, die ihr Leben lang alles für ihn gegeben hatte, im Sterben lag, verpasste der Sohn den teureren Schnellzug, um das Geld für Bücher zu sparen. Am Ende bleibt ihm nichts als Erinnerung, Trauer und Schuld.

Das Leben selbst steht im Zentrum des Erzählbandes „Die Angel meines Großvaters“ des chinesischen Literaturnobelpreisträgers Gao Xingjian, das Leben des modernen Menschen in der modernen Gesellschaft. Wie durch ein Brennglas wird er Gegenstand der Betrachtung: Wo liegen seine Wurzeln?, Wie definiert er sich selbst?, Welche Rolle hat er als Individuum im Kollektiv und wie steht er als einzelner dem Verrinnen der Zeit und natürlicher Gewalt gegenüber?

Xingjians Antworten sind klar und deutlich. Das Individuum ist einsam, sinnentleert (und deshalb ständig auf Suche), weitgehend ausgeliefert und, vor allem im chinesischen Kulturkreis, von seiner Vergangenheit radikal abgeschnitten. Die fortschreitende Modernisierung, die Anonymisierung und die Unterwerfung unter das Diktat der Idee zerstören individuelles Leben und sind nicht geeignet, stabile Identität zu stiften. Der Mensch ist zum entfremdeten Statisten geworden.

Mit „Die Angel meines Großvaters“ hat Gao Xingjian eine anspruchsvolle, raffiniert gestaltete und bildgewaltige Zeit- und Gesellschaftskritik vorgelegt, die zum Nachdenken anregt und in ihrer Symbolik einfach wunderschön ist

Stephan Scholz
23.06.2008

 
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Das Buch:

Gao Xingjian: Die Angel meines Großvaters

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Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2008
207 S., € 19,90
ISBN: 978-3-100-24502-1

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