Wissenschaften
Ein meisterhaftes Panorama des Europas der Jahre 1914 bis 1949
Das 20. Jahrhundert war geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen. Europa erlebte gewaltige Turbulenzen, die Hölle zweier Weltkriege in der ersten Jahrhunderthälfte und tiefgreifende Veränderungen. Ian Kershaw erzählt in "Höllensturz" die Geschichte dieses Kontinents vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die Zeit des beginnenden Kalten Kriegs Ende der vierziger Jahre, nachdem die europäische Zivilisation an den Rand der Selbstzerstörung gelangt war. Ethnische Auseinandersetzungen, aggressiver Nationalismus und Gebietsstreitigkeiten, Klassenkonflikte und die tiefe Krise des Kapitalismus waren die treibenden Kräfte, die Kershaw dabei besonders in den Blick nimmt. So führt es uns die Auswirkungen auf das Leben von Millionen Menschen vor Augen.
Neben den großen Entwicklungslinien in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft schildert Kershaw auch immer wieder Erlebnisse und Erfahrungen einzelner, die einen Eindruck geben vom Leben im Europa der ersten Jahrhunderthälfte. Er lässt uns in zehn Kapiteln ("Am Abgrund", "Die große Katastrophe", "Turbulenter Friede", "Tanz auf dem Vulkan", "Düstere Wolken am Horizont", "Gefahrenzone", "Der Hölle entgegen", "Hölle auf Erden", "Lautlose Übergänge in dunklen Jahrzehnten", "Aufstieg aus der Asche") an damals teilhaben. Jene Zeit ist zweifellos der Tiefpunkt in der Geschichte Europas. Sie stellt alles bis dahin Geschehene in den Schatten: zwei Weltkriege, der Holocaust, staatlicher Massenterror, millionenfacher Hungertod, millionenfache Vertreibung, die Weltwirtschaftskrise.
Ein Sachbuch mit echtem Wissensmehrwert und außerdem hohem Unterhaltungsfaktor - Ian Kershaw bringt Erstaunliches zustande: Er verbindet in "Höllensturz" Erzählung mit Analyse. Unter einer Geschichte Europas versteht er keine Aneinanderreihung bzw. Nebeneinanderstellung von Nationalgeschichten. Kershaw fragt nach den historischen Kräften und Entwicklungen, die den gesamten Kontinent prägten. Sein Blick ist umfassend und vergleichend. Was Guido Knopp für uns ist, ist der britische Autor nicht nur für die Insel, sondern auch für den Rest der Welt, und zwar ein Wissenschaftler, der sich eben nicht nur auf die Erforschung und Darstellung der Geschichte beschränkt. Kershaw geht einen Schritt weiter als viele seiner Kollegen - und begeistert so die Leserschaft für sich.
Wer denkt, dass Geschichte langweilig und einfach nur ätzend ist, der hat noch kein Werk von Ian Kershaw gelesen. "Höllensturz" ist Pflicht für jedes Bücherregal - und sollte dies auch für den Unterricht an unseren Schulen sein. Der Historiker wurde durch seine Schriften zum Nationalsozialismus, besonders durch seine zweiteilige Biografie über Adolf Hitler, bekannt. In seinem neuesten Buch widmet er sich Europa während der Jahre 1914 bis 1949. Und das auf eine Weise, wie sie einzig ein Kershaw beherrscht. Hier wird man mit Fakten und weiteren Informationen exzellent unterhalten.
Susann Fleischer
17.10.2016