Wissenschaften

Egon Friedells Jahrhundertwerk in Neuauflage

Wenn man im Lexikon den Begriff "Kulturgeschichte" nachschlägt, dann steht dort geschrieben: "Verlauf der geistigen, kulturellen und sozialen Entwicklung eines Volks oder der gesamten Menschheit und ihre Erforschung" (Quelle: Bertelsmann Lexikon in drei Bänden, 2003). Bei der Komplexität, die diesem Begriff innewohnt, stellt es eine große Herausforderung dar, eine verständliche Gesamtübersicht für Laien zu erstellen. Egon Friedell hat mit seinem Monumentalwerk "Kulturgeschichte der Neuzeit" bewiesen, dass dies nicht unmöglich ist.

Von 1927 bis 1931 erschien Friedells "Riesen-Essay" in drei Bänden. Der Aufbau des vorliegenden Werkes folgt den drei Einzelbänden, die nochmals in Bücher unterteilt sind. In diesen wird die Geschichte der abendländischen Kultur vom Ausgang des Mittelalters - mit dem Ausbruch der Schwarzen Pest um 1348 - bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914 nachgezeichnet. Dabei wird dem Leser eine Tatsache deutlich vor Augen geführt: In über 550 Jahren geschahen viele Umwälzungen von fundamentaler Bedeutung - Veränderungen und historische Ereignisse, die Friedell subjektiv festhält und vor dem Leser ausbreitet. Bereits auf der ersten Seite wird offensichtlich, dass es sich nicht um ein wissenschaftliches Werk im klassischen Sinne handelt, sondern eher um eine Einbeziehung des Lesers in Friedells Gedankenwelt. Und diese Tendenz zieht sich durch die 1824 Seiten wie ein roter Faden.

Friedells "Kulturgeschichte der Neuzeit" ist nicht nur eine reine Wiedergabe historischer Fakten, sondern auch eine farbenfrohe und plastische Zusammenfassung zahlreicher Lebensporträts bekannter Berühmtheiten. Dies könnte in der Unmöglichkeit der Tatsache liegen, dass Kultur immer im Hinblick auf Gesellschaft, Historie und Einzelschicksale betrachtet werden muss: Ein Literat wie Friedrich Schiller beispielsweise wurde maßgeblich von der Französischen Revolution (1789-1799) beeinflusst, während der italienische Dichter Dante hauptsächlich aus der Theologie, der Philosophie und den übrigen Wissenschaften (den "Artes liberales") seiner Zeit schöpfte. Mit ihren Werken geben sie dem Leser ihre Sicht der Geschichte wieder und wirken somit auf die nachkommenden Generationen ein - ähnlich wie es Friedell mit seiner persönlichen Kulturgeschichte tut.

Auch 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Egon Friedells "Kulturgeschichte der Neuzeit" hat das vorliegende Werk nichts an seinem (literarischen) Einfluss eingebüßt. Friedell hat die Gabe, den Leser mit Daten und Fakten zu Epochen, Menschen und Strömungen in seinen Bann zu ziehen und zu einem weitreichenden Blick in die Historie anzuregen. Ausführliche und sehr lebendige Porträts von Persönlichkeiten wie Martin Luther, Raffael, Francis Bacon, William Shakespeare und anderen sind ebenso von Bedeutung wie Friedells Erklärung philosophischer Thesen, die er auch in Beziehung zur politischen Geschichte setzt. Ebenso verfährt er mit den Werken berühmter Literaten.

Friedell geht dabei einen anderen Weg als seine Vorreiter: Zum einen stellt er alles in einen großen Gesamtzusammenhang, zum anderen verlässt er die objektive Sicht eines Beobachters: Er wertet, seine bildliche, scheinbar lässige und leicht verständliche Sprache reißt den Leser mit und lässt diesen damit Geschichte miterleben. Das Buch ist beinahe wie ein guter Roman - wenn auch ein wenig dicker als üblich.

Susann Fleischer
21.12.2009

 
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Das Buch:

Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit

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Zürich: Diogenes Verlag 2009
1824 S., € 19,90
ISBN: 978-3-257-23880-8

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