Wissenschaften

Die Entstehung des ländlichen Bodenmarkts im 19. Jahrhundert: Eine sozialgeschichtliche Mikrountersuchung

Historische Arbeiten über den Bodenmarkt sind selten. Dass dies gerade in einem so weitreichenden Zusammenhang wie dem des extremen Bevölkerungswachstums und der davon profitierenden Industrialisierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts so ist, muss verwundern. In dieses Defizit stößt Georg Fertig mit seiner überarbeiteten Habilitationsschrift „Äcker, Wirte, Gaben“. Ziel der Studie ist die kritische Überprüfung der gängigen These, die im Zuge der Bauernbefreiung errungenen Eigentumsrechte an Grund und Boden haben zur Herausbildung eines Bodenmarktes geführt. Dieser habe wiederum dafür gesorgt, dass sich die effektivste Nutzung durchgesetzt und damit die Produktion von Nahrungsmitteln sich im 19. Jahrhundert vervielfacht habe. Über die lange Zeit dominierende Annahme, der Boden „wandere“ zum besseren Wirt – als Aussage über den Zusammenhang von Marktbildung und Effektivität – stellt Fertig einen Bezug zu aktuellen Debatten über die Rolle von Märkten bei der Verteilung von Ressourcen her. Fertig betont dann auch, dass andere Verteilungslogiken als der Markt, etwa herrschaftliche Organisationsstrukturen, staatliche Eingriffe oder Verwandtschaftsbeziehungen, diesen in vielfältiger Weise vorstrukturierten oder sogar ersetzten.

Zur Analyse dieser Zusammenhänge verbindet der Autor sozialhistorische Methoden mit Mikroanalysen. So basiert die Arbeit auf einem breiten Fundament statistischer Daten, die aus Hypothekenbüchern, Katastern oder ähnlichen seriellen Quellen erhoben wurden, aber diese werden sehr stark an ihren jeweiligen Kontext zurückgebunden. So interessiert Fertig nicht nur die Anzahl von Grundstücktransfers, sondern er untersucht auch die jeweiligen Hintergründe, die dazu geführt haben. In diesem Vorgehen liegt der Grund für die Wahl relativ überschaubarer Untersuchungsfelder. Der Autor wendet sich den westfälischen Orten Löhne, Oberkirchen und Borgeln zu, die jeweils unterschiedliche Sozialstrukturen, Traditionen und Herrschaftsverhältnisse, die im 19. Jahrhundert in den preußischen Staat aufgingen, aufweisen. Außer aus forschungspragmatischer Sicht – dem Zugang zu Quellen – wird die Auswahl der Orte aber nicht näher begründet.

Dennoch erscheint dieses methodische Vorgehen im Hinblick auf die Fragestellung gewinnbringend. Fertig analysiert Schritt für Schritt alle relevanten Rahmenbedingungen, die Auskunft über die Herausbildung eines agrarischen Bodenmarkts geben. Zunächst befasst sich die Darstellung mit Verwandtschaftsverhältnissen. Zum einen stellt sich die Frage, welche Formen von Transfers überhaupt als marktförmig gelten können, zum anderen ordnet er diese in ein enges Geflecht sozialer Netzwerke ein. In einem weiteren Schritt beschreibt der Autor die allmähliche Ablösung von grundherrlichen Strukturen, die bis weit in den Untersuchungszeitraum hinein die freie Verfügbarkeit über Grund und Boden begrenzten. Ebenso bezieht er Überlegungen zur sozialen Restriktionen für die Teilnahme am Austausch mit ein.

In den folgenden Kapiteln ordnet Fertig seine Befunde in bestehende Theorien ein. Hierbei interessieren ihn besonders Thesen, die den Kauf oder Verkauf von Land an Lebenszyklen oder bestimmte Ereignissen im Lebenslauf koppeln und mit allgemeineren Wirtschaftszyklen in Zusammenhang stehen. Daneben untersucht Fertig die Preisbildung, von der er sich Aufschluss über Marktmechanismen erhofft. Diese stark begrenze Perspektive stößt aber, wie Fertig selber einräumt, an Grenzen, da die gezahlten Preise meist weder in Relation zur Qualität des Bodens, noch zur sozialen Nähe der Vertragspartner standen. Zur Auflösung der unbefriedigenden Erklärungsansätze bietet Fertig ein Modell an, in dem der Transfer von Grund und Boden stark in familiäre Netzwerke eingebunden ist und deren Bedeutung nur innerhalb dieser erschlossen werden kann. Folgerichtig bestreitet er, dass sich im Westfalen des 19. Jahrhunderts – trotz der rechtlichen Möglichkeit – ein funktionsfähiger Bodenmarkt herausgebildet habe.

Wer von sozialhistorischen Arbeiten einen unübersichtlichen Wust an statistischen Daten erwartet, wird von der Lesbarkeit dieses Buches positiv überrascht werden. Zwar haben Erhebungen und die Interpretation von Zahlenkolonnen zu Nahrungspreisen oder Bodentransaktionen ihren festen Platz, aber sie werden stets in ihrem konkreten Kontext thematisiert. Die gewählte Methode, Sozialgeschichte mit Mikrountersuchungen zu verbinden, erscheint sowohl inhaltlich als auch für die Darstellung gewinnbringend. Dennoch sind viele der erörterten Sachverhalte derart kompliziert – insbesondere wenn rechtsgeschichtliche Umstände diskutiert oder komplexe Familienzusammenhänge analysiert werden – dass der Leser ein gewisses Vorwissen mitbringen muss. Ob die Beschreibung des Quellenmaterials und des Umgangs damit, wie im vorliegenden Buch, in den Anhang verbannt werden sollte, erscheint fraglich.

Insgesamt muss man die Arbeit Fertigs vor dem Hintergrund einer schwierigen Quellenlage und komplexer Zusammenhänge würdigen. Dies umso mehr, als in letzter Zeit wenig neue Erkenntnisse zu Bodenmärkten und zu deren Bedeutung für die Wirtschaftsgeschichte entstanden sind. Allerdings kann auch Fertig dieses Defizit nicht wirklich beheben. So ist seine Untersuchung des ländlichen Bodenmarkts im analytischen Teil wesentlich stärker als in den Abschnitten, in dem sie nach möglichen Deutungen sucht.

Sebastian Haumann
07.07.2008

 
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Das Buch:

Georg Fertig: Äcker, Wirte, Gaben. Ländlicher Bodenmarkt und liberale Eigentumsordnung im Westfalen des 19. Jahrhunderts

Berlin: Akademie-Verlag 2007
275 S., € 79,80
ISBN 978-3-050-04378-4

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