Wissenschaften

Facettenreich und erhellend: Was ein historischer Blick zum Verständnis des Alpinismus beitragen kann

Berge waren immer schon besondere Orte, an denen sich Himmel und Erde berührten. Lange bevor der erste Bergsteiger einen Gipfelsieg für sich reklamierte, suchten die Menschen die Berge auf. Sie bestiegen nicht die Berge, um ihrer Gipfel willen, sondern stiegen auf den Berg ihres Gottes, um kultischen Handlungen nachgehen zu können. In fast allen Weltreligionen gibt es Heilige Berge; Fujiyama, Kilimandscharo und Ayers Rock sind nur die berühmtesten dreier Kontinente.

Sportlicher Antrieb und mystische Sinnsuche

Zur Bestimmung des heutigen Bergsteigens erachtet Peter Grupp in seinem Buch „Faszination Berg“ Zweckfreiheit und sportlichen Antrieb als definitorisch notwendige Bedingungen. Für die immer wieder gestellte Frage nach dem Warum, dem Motiv für diese potentiell lebensgefährliche Aktivität allerdings sieht er in einem Bündel von Motiven auch heute noch  eine religiöse Züge tragende Sinnsuche, zumindest aber die Suche nach einem mystischen Erlebnis. Nicht nur Rheinhold Messner als vielleicht bekanntester Bergsteiger beschreibt sein Tun als eine „Art Religionsausübung“.

Der Historiker Grupp will mit seinem Buch der „Geschichte des Alpinismus“ dem weiten Feld der Bergsteigerliteratur keine weitere „Chronik der Eroberung der Berge“ hinzufügen. Dem bergsteigenden Autor geht es eigenem Bekunden nach um eine Darstellung des Alpinismus in seinen grundlegenden Strukturen und seiner Komplexität, und somit darum, erstmals eine wirkliche Geschichte des Alpinismus zu schreiben. Der Leser findet tatsächlich keine dem Topoi von Triumph und Niederlage untergeordnete Aneinanderreihung berühmter Gipfel-Eroberungen, sondern eine breit angelegte geschichtliche Darstellung der für das Bersteigen konstitutiven Aspekte: von den Spielarten des Alpinismus zum Kommerz, von der Infrastruktur zum Bergführer, von Bergsteigerkategorien über Bergkameradschaft und Konflikten zur Ethik, vom Gesellschaftsbezug zur Spiegelung in Literatur, Film und Musik.

Das Goldene Zeitalter: spannend und geschichtlich bedeutsam

Auf die großen und auch dramatischen Ereignisse des Alpinismus muss der Leser aber nicht verzichten. Nur beschränkt sich Peter Grupp nicht auf die Schilderung der Besteigungen, sondern behandelt sie immer im Lichte ihrer Stellung in der Entwicklungsgeschichte des Bergsteigens. Die berühmte Erstbesteigung des Matterhorns im Jahre 1865 stellt er beispielsweise als den Endpunkt des nur 15 Jahre währenden so genannten goldenen Zeitalters des Alpinismus heraus. In dieser für die Geschichte des Bergsteigens so wichtigen Zeitspanne explodierten die Anzahl von erstbestiegenen Alpengipfeln und die bewältigten technischen Schwierigkeiten. Zudem löste sich die Motivation der Bergsteiger von der wissenschaftlichen Zweckgebundenheit hin zum selbstgenügsamen sportlichen Antrieb, der nun auch offiziell akzeptiert wurde. Bergsteiger waren keine Sonderlinge mehr, was sich 1857 auch in der ersten Gründung eines Alpenvereins, des englischen Alpine Club, zeigte. 

Mithin war nun ein Stand erreicht, in dem sich der Alpinismus voll ausgebildet hatte. In den Bemühungen um die Erstbesteigung des Matterhorns zeigen sich dessen Wesenszüge verdichtet: Es war ein atmosphärisch aufgepeitschter, hochstilisierter Wettlauf, der unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit von den bekanntesten Bergsteigern der Zeit mit allen Mitteln gewonnen werden wollte. Nach dem Triumph ereignete sich eine Katastrophe, bei der vier Bergsteiger tödlich verunglückten, die in einem gewaltigen Medienecho erstmalig eine Debatte  im Hinblick auf Sinn und Unsinn des Bergsteigens auslöste.

Die fast 700 Jahre alte Idee des Alpinismus

Das Gründungsdokument des Alpinismus sieht Grupp im einige Jahrhunderte früher erschienen und viel interpretierten Brief des Humanismusbegründers Francesco Petrarca an seinen Freund Dionigi. Im Jahr 1336 schildert der italienische Lyriker seine Besteigung des südfranzösischen Mont Ventoux. Wenn auch heute Zweifel über die Authentizität der Besteigungsschilderung bestehen, so enthält das Schriftstück doch alle Elemente des modernen Alpinismus: Die Besteigung erfolgte „lediglich aus dem Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennen zu lernen“ und wird zum Symbol der „Wege zum seligen Leben“, der Gipfelblick schließlich erzeugt Bewunderung. Petrarca endet allerdings noch mit einer Verdammung des Bergsteigens als einem leeren Schauspiel mit dem wahres Seelenheil nicht zu erreichen sei.

In diesem Buch begegnet man unzähligen Namen, Ereignisse und Gipfelbesteigungen die dem berginteressierten Leser wohlbekannt sind. Peter Grupp gelingt es, sie unter seinem historischen Blickwinkel in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen, der neue Erkenntnisse vermittelt. Es wird so erfahrbar, warum Petrarcas Idee des Alpinismus erst Mitte des 19. Jahrhunderts zum Massenphänomen werden konnte. An mancher Stelle werden Sichtweisen korrigiert, wie z.B. das Verhältnis von Nationalsozialismus und Erstbesteigung der Eiger Nordwand. Herausgekommen ist ein Buch, das den Blick auf die Entwicklung des Bergsteigens erweitert und darüber hinaus spannend zu lesen ist. Ob es zum angekündigten Standardwerk werden wird, muss sich zeigen. Einen festen Platz im Regal der lesenswerten nicht nur historischen Bergliteratur ist ihm aber sicher.

Sascha Müller
07.07.2008

 
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Das Buch:

Peter Grupp: Faszination Berg. Die Geschichte des Alpinismus

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Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2008
391 S., 38 s/w-Abb., € 29,90
ISBN 978-3-412-20086-2

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