Wissenschaften

Nach dem Wirtschaftswunder. Ein zeitgeschichtlicher Beitrag zum Verhältnis von Politik und Expertenkultur

Die späten 60er Jahre gelten als die Hochphase eines weit verbreiteten Glaubens an Fortschritt und Planung - in den bis heute sichtbaren Projekten des modernen Städtebaus, in dem Ausbau des Bildungswesens, aber auch in der Wirtschaftspolitik, der sich Tim Schanetzky in seiner Arbeit "Die große Ernüchterung" zuwendet. Er legt den Schwerpunkt indes nicht auf die Entstehung, sondern auf das Scheitern und die Abkehr von Planungs- und Steuerungskonzepten und betritt damit ein wenig erforschtes Feld. Die als Dissertation entstandene Darstellung der Wirtschaftspolitik der späten 60er und 70er Jahre knüpft an die historische Forschung an, die eine "Verwissenschaftlichung" der Politik als markantestes Merkmal der "Planungseuphorie" konstatiert. Um die vermuteten Wandlungsprozesse methodisch greifbar zu machen, wendet sich Schanetzky der "wirtschaftspolitischen Semantik" zu. Er fragt danach, wie die Wirtschaftspolitik ihre Entscheidungen begründete und welche Rückschlüsse dies auf das Gesellschaftsbild der Verantwortlichen zulässt. Mit dieser Methode gelingt es dem Autor, zu zeigen, wie die Bedeutung wissenschaftlich erzeugten Wissens als legitime Entscheidungsgrundlage der Wirtschaftspolitik in den 60er Jahren zunahm und im Zuge der 70er Jahre wieder relativiert wurde.

Als Beispiel konzentriert sich das vorliegende Buch auf die Geschichte des "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung", der zugleich einer der langlebigsten und einflussreichsten wirtschaftspolitischen Beratungsgremien der Bundesregierung war. Sie beginnt mit der Entstehung des Sachverständigenrats als eine unter vielen in den 1950er Jahren von Regierungsstellen, Parteien und Verbänden gegründeten Institutionen. Während die Regierung Ludwig Erhards wissenschaftliche Beraterkreise klar dem politischen Kalkül unterordnete, wuchs ihr Einfluss unter der großen Koalition beträchtlich. War der wissenschaftliche Standpunkt bis dahin nur einer unter vielen, so avancierte er Ende der 60er Jahre zur Grundlage der "Globalsteuerung" anti-zyklischer Wirtschaftspolitik. Schanetzky zeigt, dass bereits in diesem Aufstieg wissenschaftlich fundierter Prognosen Probleme angelegt waren, die den Autoritätsverlust in den 1970er Jahren vorzeichneten. Die anschließende "Ernüchterung" über die Möglichkeiten von Projektionen für die Zukunft resultierte zum einen daraus, dass die Voraussagen des Sachverständigenrates und anderer Gremien, auf Grund der unstetigen wirtschaftlichen Situation nicht mehr zutrafen. Zum anderen führte ein Paradigmenwechsel innerhalb der Wirtschaftswissenschaften dazu, dass der Sachverständigenrat keine einstimmigen Empfehlungen mehr geben konnte und zudem von anderen Wirtschaftswissenschaftlern offen kritisiert wurde. Dementsprechend charakterisiert der Autor die 1970er Jahre als Zeit einer widersprüchlichen Wirtschaftspolitik und des Lavierens zwischen keynesianischer Steuerung und monetaristischer Angebotsökonomie. In den 1980er Jahren verlor die Tätigkeit des Sachverständigenrates endgültig an Verbindlichkeit während sich die Politik wieder stärker auf den Markt als dominantes wirtschaftliches Steuerungssystem verließ.

"Die große Ernüchterung" bietet einen lesenswerten Einblick in den komplexen Zusammenhang von gesellschaftlichem Wandel, Wissenschaftsverständnis und Wirtschaftspolitik, der in die 70er Jahre wie kaum ein anderes Jahrzehnt geprägt hat. Tim Schanetzkys methodischer Ansatz, die "wirtschaftspolitischen Semantik" zu untersuchen, bietet dazu eine gut gewählte Perspektive. Allerdings hat diese Vorgehensweise auch ihre Tücken, gerade wenn es um die sprachliche Darstellung geht: Unnötige Zitate und wirtschaftswissenschaftlicher Jargon stören bisweilen den Lesefluss. Dies korrespondiert mit dem Aufbau des Buches, der den Leser Schritt für Schritt durch die 60er und 70er Jahre führt, durch seine Gründlichkeit aber in Teilen langatmig wirkt. Insgesamt ist Tim Schanetzkys Werk ein fundierter und überzeugender Beitrag zur Erforschung der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte. Wer sich mit der für die Regierungen von Erhard bis Schmidt so wichtige Wirtschaftspolitik jenseits von oberflächlicher Verklärung befassen will, sollte Schanetzkys "Große Ernüchterung" lesen.

Sebastian Haumann
31.03.2008

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Tim Schanetzky: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982 (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 17)

CMS_IMGTITLE[1]

Berlin: Akademie Verlag 2007
310 S., € 49,80
ISBN: 978-3-05-004302-9

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.