Hörbücher

So mutig wie Pippi Langstrumpf und so frech wie Michel aus Lönneberga

1918. In Europa wütet noch immer der Krieg. Ein zehnjähriges Mädchen, die Hauptfigur und namenlose Ich-Erzählerin in Irmgard Keuns Jugendroman "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften", hat nicht nur unter den Auswirkungen des Krieges zu leiden, sondern fühlt sich von den Erwachsenen stets zu Unrecht bestraft und verurteilt. Dass sie kein Kind von Traurigkeit ist und ständig in missliche Situationen gerät, ist nicht zu bestreiten, doch ihre Streiche sind niemals absichtlich bösartig.

Die Schilderungen des Mädchens beginnen mit dem Tag, als die Direktorin ihrer Schule stirbt und das Mädchen sich erdreistet, die Lehrerin zu fragen, an was die Direktorin denn gestorben sei. Ein Fauxpas, der umgehend bestraft wird. Da der Krieg eine schreckliche Sache ist, gegen die man unbedingt etwas tun muss, beschließt das Mädchen, einen Brief an den Kaiser zu schreiben. Schließlich sei er ja der Kaiser und müsse die Möglichkeit haben, den Krieg zu stoppen. Was mit einem guten Gedanken begonnen hat, endet mit Ärger für den Vater des Mädchens. Dieser muss, seit der unfrankierte Umschlag abgefangen worden ist, jeden Tag auf dem Polizeipräsidium erscheinen und sich den Fragen der Beamten stellen.

Zusammen mit den Kindern in ihrer Nachbarschaft und ihren Freunden ist das Mädchen zu jeder Schandtat bereit, doch stecken hinter ihren Streichen niemals böse Absichten, es sei denn, sie will sich bei Traudchen dafür rächen, dass sie sie bei den Erwachsenen verpfiffen hat. Als sich die Zehnjährige jedoch beim Steckrübenklauen wagemutig auf einen Waggon im Güterbahnhof begibt, um die lebensnotwendigen Lebensmittel für ihre Familie zu stehlen, zeigt sie die guten Absichten hinter ihren Taten. Diese Episode ist aber nicht nur Zeugnis für das gutmütige Herz, das in der Brust der Zehnjährigen schlägt, sondern zeichnet auch ein vielsagendes Porträt der Zeit.

"Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften" ist nach "Kind aller Länder" ein weiterer Roman von Irmgard Keun, der kürzlich wiederentdeckt wurde. 1905 in Berlin geboren und in Köln aufgewachsen, musste die Schriftstellerin 1936 Deutschland verlassen, da ihre Bücher auf dem Index gelandet waren. Im Exil, das sie u. a. nach Ostende in die Gesellschaft von Thomas Mann und Joseph Roth führte, war sie weiterhin schriftstellerisch tätig und veröffentlichte über einen niederländischen Verlag. Auch "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften", das als einziger Jugendroman Keuns gilt, wurde 1936 zuerst in den Niederlanden veröffentlicht.

Keuns Romane eint, dass sie überwiegend in ihrer Heimatstadt Köln spielen und meist eine Mädchen- oder Frauenfigur zur Protagonistin haben. Diese Mädchen und Frauen kämpfen mit den Problemen ihrer Zeit und um Selbständigkeit. Dabei lassen sie sich von den Widrigkeiten jedoch niemals unterkriegen. Auch das zehnjährige Mädchen in Keuns Jugendroman gibt niemals auf, egal, wie oft sie bestraft wird, und ungeachtet der Tatsache, dass man ihr mit einem Umgangsverbot ihre Freunde nehmen will. Ihr Geist scheint ungebrochen und der Schalk sitzt ihr stets im Nacken.

Dadurch, dass Keun sich für die Ich-Perspektive entschieden hat, ist man als Leser bzw. Hörer immer besonders nah an der Protagonistin und sieht die Welt mit den Augen eines Kindes, dazu gehört auch die Sicht auf den Krieg und die schwierigen Lebensbedingungen. Bei all dem Leid, das man als erwachsener Leser in das Jahr 1918 automatisch in die Geschichte hineininterpretiert, kann man doch nicht umhin, an der einen oder anderen Stelle auch einmal laut aufzulachen. Sich als Erwachsener noch eine solche Naivität und ein kindliches Denken erhalten zu haben, ist eine Leistung, die Keuns Romane, die sie aus der Sicht eines Kindes geschrieben hat (neben "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften" auch "Kind aller Länder"), so einzigartig machen.

Das Kindlich-Naive transportiert auch die Sprecherin Jodie Ahlborn, die bereits den ebenfalls vor kurzem wiederentdeckten und neu aufgelegten Keun-Roman "Kind aller Länder" gelesen hat, mit ihrer jungen Stimme bestens. Als Hörer glaubt man von der ersten Sekunde an, dass hier ein vorwitziges und fröhliches Mädchen von seinen Streichen und alltäglichen Erlebnissen erzählt. Lässt man den politischen Hintergrund und den mühsamen wie entbehrungsreichen Alltag, dem sich das zehnjährige Mädchen stellen muss, außen vor, ist man versucht, sie sich als eine Mischung aus Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga vorzustellen - ein Mädchen, das gleichermaßen mutig, frech und willensstark ist.

Sabine Mahnel
02.01.2017

 
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Das Buch:

Irmgard Keun: Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften

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Sprecherin: Jodie Ahlborn
Berlin: Der Audio Verlag 2016
Spielzeit: 279 Min., € 17,99
ISBN: 978-3-86231-846-9

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