Hörbücher

Plädoyer für das Experimentieren und die Lebensfreude

Wenn begabte Schriftsteller jung versterben, so hinterlassen sie meist nur ein vom Umfang her kleines Gesamtwerk, doch wie bei vielem im Leben zählt hier nicht Quantität, sondern Qualität. Diese Qualität ist es auch, die dafür sorgt, dass solche Schriftsteller der Nachwelt noch lange in Erinnerung bleiben. Die deutsche Literaturgeschichte kennt hierfür Beispiele wie Georg Büchner oder Wolfgang Borchert. In der amerikanischen Literaturgeschichte könnte sich gerade ein neuer Name in die Reihe derjenigen Autoren einreihen, die viel zu früh verstorben sind und der Nachwelt zu wenig von ihrem literarischen Schaffen hinterlassen haben.

Marina Keegan (1989-2012) verstarb nur wenige Tage nach ihrem Yale-Abschluss, den sie mit der Höchstnote "summa cum laude" erreicht hatte, bei einem Autounfall. Sie war zusammen mit ihrem Freund auf dem Weg zur Geburtstagsfeier ihres Vaters, als der Freund am Steuer einschlief und der Wagen gegen eine Leitplanke prallte. Marina starb, ihr Freund überlebte. Die Tragik dieser Geschichte wird noch erhöht, wenn man die Erzählungen und Essays liest, die Marina in ihrem kurzen Leben verfasst hat, und realisiert, welch wirklich gute Autorin aus ihr hätte werden können. Die Stelle als Redakteurin beim "New Yorker", einer der renommiertesten Kultur- und Literaturzeitschriften, war ihr zum Zeitpunkt ihres Todes bereits sicher gewesen.

In ihrem posthum von ihren Eltern und ihrer ehemaligen Professorin veröffentlichten Band "Das Gegenteil von Einsamkeit" sind neun Erzählungen und acht Essays von Marina Keegan versammelt. Werke, die sie nach Aussage ihrer Professorin sicherlich noch bis zur Erschöpfung redigiert hätte, war sie doch eine Perfektionistin, wenn es um ihre Geschichten ging. "Besser geht immer" war aber nicht nur ihr Motto, wenn es ums Schreiben ging, auch im Leben, in der Liebe und in ihren Freundschaften strebte sie stets danach, mehr auszuprobieren, mehr zu erleben und mehr Liebe zu erhalten. Kommilitonen, die mit Anfang 20 schon genau wussten, wohin ihr Leben sie einmal führen würde, waren ihr suspekt, ja widerten sie sogar an. In ihrem Essay "Sogar Artischocken haben Zweifel" geht sie der Frage nach, warum ein Viertel aller Yale-Absolvent - waren ihre Absichten auch noch so altruistisch zu Beginn ihres Studiums - im Consulting- und Finanzsektor landen und ihre Seele an McKinsey & Co. verkaufen.

Berichtet Keegan in ihren Essays aus ihrem eigenen Leben als junge Yale-Studentin, über die besondere Verbindung zu ihrem ersten Auto, ihr Leben mit Glutenunverträglichkeit und die Veranlagung des Menschen, eher Tieren als Menschen zu helfen, schreibt sie in ihren Short Stories über Themen, die nicht unbedingt ihrem Dunstkreis als "Twentysomething" entstammen. Da geht es um Krieg, Selbstzweifel im Alter, Verlust oder ungewollte Schwangerschaften und unerfülltem Kinderwunsch. Sie schreibt mit dem Herz einer Zwanzigjährigen, aber mit der Ausdruckskraft und der Reife einer Vierzigjährigen.

Der einleitende und titelgebende Essay des Buches "Das Gegenteil von Einsamkeit" war ihr letztes Editorial, das sie für die "Yale Daily News" schrieb. Sie beschreibt darin das Gefühl der Gemeinschaft, des Zusammenlebens in einem Kosmos wie dem der Universität, ein Gefühl, das ihr nach ihrem Abschluss fehlen wird. Gäbe es ein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit, denn würde sie dieses Gefühl, das ihr fehlen wird und nach dem sie im Leben immer suchen wird, so bezeichnen.

Die ungekürzte Hörbuchfassung dieses außergewöhnlichen Erzähl- und Essaybandes wird von Eva Meckbach gelesen, die mit ihrer jungen und lebhaften Stimme dafür sorgt, dass man sich komplett in Marina Keegans (Gedanken-)Welt hineinversetzt fühlt.

Marina Keegans leider sehr überschaubares Lebenswerk hat die Kraft, einen als Leser bzw. Hörer sich wieder in die Zeit zurückversetzt zu fühlen, in der man selbst Anfang 20, noch nicht festgefahren und voller Träume und Ideale war. Inwieweit Keegan ihrem eigenen Traum, nämlich eine "richtige" Schriftstellerin zu werden, nahe gekommen wäre, hätte wohl nur die Zeit zeigen können. Die Zeit, die sie nicht hatte - auch wenn sie in einem ihrer Essays so lebenshungrig formuliert: "Wir sind so jung. Wir sind 22 Jahre alt. Wir haben noch so viel Zeit."

Sabine Mahnel
23.03.2015

 
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Das Buch:

Marina Keegan: Das Gegenteil von Einsamkeit. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit

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Sprecher: Eva Meckbach
Berlin: Argon Verlag 2015
Spieldauer: 393 Min., € 19,95
ISBN: 978-3-8398-1387-4

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