Hörbücher
Die brillante Vertonung einer gelungenen Geschichte
Beim Torfstechen auf der schottischen Hebriden-Insel Lewis stoßen Dorfbewohner auf die Leiche eines Jungen. Durch die Lagerung im Torf ist der Leichnam zwar sehr gut konserviert worden, doch gibt es keine Vermisstenfälle, mit denen der Fund in Verbindung gebracht werden kann. Erste Untersuchungen erlauben eine zeitliche Einordnung in die Fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ein DNA-Abgleich liefert sogar einen vielversprechend erscheinenden Treffer: Der tote Junge steht in einer verwandtschaftlichen Beziehung zu dem einheimischen Tormod Macdonald. Doch leidet dieser unter einer fortgeschrittenen Demenz und ist somit weder für die Polizei noch seine engsten Familienangehörigen erreichbar.
Fin Macleod hat nach dem schrecklichen Unfalltod seines Sohnes und der gerade vollzogenen Scheidung von seiner Frau den Polizeijob quittiert. Er kehrt vom Festland zurück nach Lewis, auf seine Heimatinsel, just zu dem Zeitpunkt, als die Ermittlungen um die Jungenleiche im Torf anlaufen. Der demente und im Fokus stehende Tormod ist der Vater von Fins Jugendliebe Marsali. Gemeinsam begeben sich Fin und Marsali auf die Reise in Tormods Vergangenheit. Dabei stoßen sie rasch auf einige Ungereimtheiten, denn Tormod scheint sich für jemanden auszugeben, der in jungen Jahren verstorben ist. Warum hat sich Marsalis Vater einer anderen Identität bedient? Liegt hierin der Schlüssel für die Zusammenhänge, die über fünfzig Jahre hinweg im Torf konserviert waren?
Peter May ist ein schottischer Schriftsteller, der in früheren Jahren ein erfolgreicher Drehbuchautor für die BBC war. Seit geraumer Zeit hat er sich auf das Schreiben von Büchern verlagert. "Beim Leben deines Bruders" ist nach "Blackhouse" der zweite Roman um Fin Macleod, ein dritter soll folgen und die von May als Lewis-Trilogie bezeichnete Reihe abschließen. Das vorliegende Hörbuch weist mit einer gelungenen Besonderheit auf. Neben der die Haupthandlung tragenden Sprecherrolle, die mit David Nathan hochklassig besetzt ist, hat der DAV einen zweiten Sprecher hinzugezogen. Der aus vielen Fernsehrollen bekannte Hans Peter Hallwachs zeichnet für die Passagen aus der Sicht des demenzkranken Tormod Macdonald verantwortlich und macht das vorliegende Hörbuch zu einem Erlebnis.
Der Autor hat seine Geschichte um den toten Jungen im Torf großzügig auf der geschichtlichen Zeitachse angesiedelt. Die Rückblenden reichen hinein bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs und beschäftigen sich intensiv mit der Nachkriegszeit, als in den ländlichen Gegenden Schottlands katholische Waisenkinder bei Presbyterianer-Familien "in Stellung waren" und als billige Arbeitskräfte im Haus Verwendung fanden. Die Geschichte um den jungen Tormod bzw. sein Alter Ego wird von Peter May sehr einfühlsam erzählt. Mit dem Kniff, die Vergangenheit aus der dementen Hülle Tormods heraus erzählen zu lassen, ist der Hörer den Ermittlungen von Fin und Marsali stets einen Schritt voraus. Doch operiert der Autor hierbei so geschickt, dass selbst dieser Wissensvorsprung nicht genügt, um vor dem großen Showdown Licht ins Dunkel zu bringen.
"Beim Leben deines Bruders" ist der beste Beweis dafür, wie ein sprechendes Hörbuch mehr sein kann als ein gedrucktes Buch. Der Vortrag von Hans Peter Hallwachs als dementer Tormod Macdonald ist schlichtweg genial. Man bekommt als Hörer dank Hallwachs‘ brillanter Interpretation vermittelt, wie in Teilen Tormods Blick auf bestimmte, weit zurückliegende Episoden noch völlig klar ist, während so manche Begegnung im gegenwärtigen Alltag den alten Mann vor unlösbare Hürden stellt. Hans Peter Hallwachs und David Nathan sind ein Duo, das die siebenstündige Lesung wie im Flug vergehen lässt. Den Machern von "Der Audio Verlag" ist ein großes Kompliment für die Produktion dieses Hörbuch auszusprechen. Mit einer gelungenen Sprecherbesetzung und einigen Kniffen wird aus einem Buch mehr als ein schlicht vorgelesenes Hörbuch, nämlich der begeisternde Vortrag einer Geschichte, die zuvor auf Papier gebracht worden war. "Beim Leben deines Bruders" darf gerne als Blaupause für kommende Hörbuchproduktionen verwendet werden!
Christoph Mahnel
17.03.2014