Hörbücher
Die Einsamkeit der Soldaten in Afghanistan
2008 legte er mit seinem Roman "Die Einsamkeit der Primzahlen" ein fulminantes Debüt in der Literaturwelt hin. Mit Übersetzungen in 40 Sprachen, einer Verfilmung und dem angesehensten italienischen Literaturpreis, dem Premio Strega, gelang dem 1982 in Turin geborenen promovierten Physiker Paolo Giordano der Durchbruch als Schriftsteller. Als Teilchenphysiker besitzt er eine ganz besondere Liebe zum Detail und eine feine Beobachtungsgabe. Von diesen Talenten machte Giordano bereits beim Schreiben seines Debütromans Gebrauch und verfeinert sie nun nochmals in "Der menschliche Körper", wo er nicht nur die Psyche der Menschen seziert, sondern auch ihre Physis fast pathologisch genau betrachtet.
Eine Gruppe italienischer Soldaten begibt sich für sechs Monate zu einem Einsatz nach Afghanistan. So wie die Truppeneinsätze in Kriegsgebieten nie einen einzigen Helden haben, hat auch Giordanos Roman nicht nur einen Protagonisten, sondern viele. Da wären der Feldwebel René, der sich zu Hause in Italien als Callboy ein Zubrot verdient und kurz vor seiner Abreise erfährt, dass eine seiner Kundinnen von ihm schwanger ist, und der Gefreite Ietri, erst 20 Jahre alt, noch grün hinter den Ohren und ein gefundenes Fressen ist für Cederna, das Sinnbild eines italienischen Machos, der Schwächen anderer ausnutzt und sich über sie lustig macht. Oberleutnant Egitto begleitet die Truppe als Militärarzt und ist froh über den Einsatz fernab der Heimat, in der ihn seine familiäre Situation immer wieder einholt. Im Gegensatz zu Egitto vermisst Camporesi als junger Vater seine Frau und seinen dreijährigen Sohn. Der Sarde Torsu sucht in den einsamen Momenten im Lager nach erotischen Kontakten im Internet und chattet mit einer Unbekannten namens Tersicore89. Die einzige Frau der Truppe, Zampieri, wird von den Männern für lesbisch gehalten, weil sie keinen der Jungs an sich heranlässt.
Der Afghanistan-Einsatz stellt für diese Gruppe junger Menschen eine Ausnahmesituation dar, die bereits ohne den emotionalen Ballast, den sie von zu Hause, von ihren Familien, Freunden und Frauen mitgebracht haben, schon fordernd und zehrend genug wäre. Giordano schildert jedoch eindrucksvoll nicht nur die täglichen Unannehmlichkeiten und die Gefahren, denen die Soldaten ausgesetzt sind, sondern auch ihre inneren Kämpfe, bei denen sie sich meist selbst der ärgste Feind sind. Egitto erträgt sein Leben nur mit Hilfe kleiner Glückspillen, René überlegt selbst im Einsatz noch, ob eine Abtreibung angebracht wäre, und Ietri ist entschlossen, nicht als Jungfrau nach Italien zurückzukehren.
Als es zu einem gefährlichen Einsatz kommt, bei dem die Soldaten ihre Sicherheitszone verlassen müssen und eine afghanische Lastwagenkolonne durch das Tal der Rosen, das in der Hand der Taliban ist, begleiten müssen, ist ihnen allen bewusst, dass sie dabei sterben könnten. Auch wenn einige von ihnen diesen Einsatz mit dem Leben bezahlen bzw. dauerhafte körperliche Schäden davontragen, sind es doch die seelischen Wunden, die dieser Einsatz hinterlassen, die nicht heilen wollen und die Konsequenzen für das Leben der Soldaten zurück in der Heimat mit sich bringen.
Giordano gibt in seinem Roman, der gänzlich auf die allzu subjektive Ich-Perspektive verzichtet, zu keiner Zeit eine Wertung dieses Militäreinsatzes in Afghanistan ab. Er zeichnet aber ein eindrucksvolles Bild der Auswirkungen auf Körper und Seele derjenigen Menschen, die ein paar Monate unter extremen Bedingungen leben - in Staub, Schlamm, abgeschnitten vom Rest der Welt und immer in der Gewissheit, dass der nächste Schritt derjenige sein könnte, der eine Mine hochgehen lässt.
Alexander Fehling, Shootingstar des europäischen Films und bekannt u.a.durch seine Rolle als Johann Wolfgang von Goethe in "Goethe!", liest die Bestandsaufnahme der Befindlichkeiten von Soldaten im Afghanistan-Einsatz mit viel Feingefühl. Denn trotz der harschen Schilderungen der körperlichen Nöte der Soldaten, sind es die seelischen Schmerzen und die leisen Töne, die besondere Beachtung benötigen und verdienen.
Sabine Mahnel
10.02.2014