Hörbücher

Buddenbrooks auf Französisch

Irene Némirovsky gehört zweifelsohne zu denjenigen Schriftstellern, deren Ruhm zu Lebzeiten vom posthumen bei weitem übertroffen wird. Die Tochter eines jüdischen Bankiers aus der Ukraine verbrachte die meisten ihrer wenigen Jahre auf Erden im Paris der Zwischenkriegsjahre. Geboren 1903 studierte sie dort an der Sorbonne, gründete eine Familie und legte mit einigen wenigen Romanen die Grundlage für ihren weltweiten Ruhm, zu dem sie allerdings erst knapp 60 Jahre nach ihrem Tod im Konzentrationslager Auschwitz anno 1942 kommen sollte: Nach dem Tod ihrer Tochter waren Skizzen aus deren Nachlass als Némirovskys unvollendeter Roman "Suite française" identifiziert worden, welcher in der Folge mit Lob und Literaturpreisen überschüttet wurde.

Der dem vorliegenden Hörbuch zugrunde liegende Roman "Die Familie Hardelot" hingegen war im französischen Original bereits in den späten Vierziger Jahren erschienen. Die deutsche Audio-Ausgabe hat mit Iris Berben eine bezaubernde Sprecherin gefunden, die mit ihrer mal sanften, mal resoluten Stimme die gut sieben Stunden zu einem Vergnügen für die Ohren macht. Die einst gemeinsam mit Ingrid Steeger als "Himmlische Tochter" leicht bekleidet durchs TV tänzelnde Berben hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer anerkannten Charakterdarstellerin in Film und Fernsehen gemausert sowie zu einer sozial engagierten Kämpferin gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Entsprechend seriös trägt sie die gekürzte Ausgabe dieses imposanten Werkes vor und packt den Hörer emotional mit dieser fesselnden Geschichte über fünf Generationen hinweg.

Die Handlung in "Die Familie Hardelot" setzt in den Tagen vor Beginn des Ersten Weltkrieges ein, als nicht nur in Frankreich, sondern auch in ganz Europa konservative und starre Strukturen etabliert waren, die förmlich danach schrien, mit Gewalt eingerissen zu werden. Im Korsett dieser unverrückbaren Vorgaben befindet sich auch die Industriellenfamilie Hardelot in der französischen Provinzstadt Saint-Elme. Der Großvater waltet als Alleinherrscher sowohl über die sich im Besitz der Familie befindlichen Papierfabrik als auch über die gesamte Familie. So ist es nicht verwunderlich, dass Enkel Pierre mit seiner Weigerung, die versprochene Vermählung mit der finanziell potenten Simone einzugehen, um stattdessen seine große Liebe Agnès zu ehelichen, den Furor seines Großvaters hervorruft und für seine Abspaltung von der Familie sorgt.

Es scheint, als ob alle Zutaten für einen ordentlichen Kitschroman gesät seien. Doch Irene Némirovsky beweist im Fortgang der Geschichte, dass sie eine große Schriftstellerin ist, indem sie die Handlung in ein gewaltiges Familienepos münden lässt und sowohl Leser als auch Hörer mit scharfsinnigen Beobachtungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu fesseln vermag. Es zieht sich nämlich wie ein roter Faden durch das vorliegende Werk, dass Némirovsky sich im ständigen Wechsel stets tiefer in einen der Protagonisten versetzt, dessen Sicht auf die Dinge detailliert preisgeben lässt und somit einen tiefen Einblick in das Seelenleben der Charaktere gewährt.

Auch wenn einige Zufälle die Handlungsstränge überraschend und besonders dramatisch zusammenführen, wird ob der Gewalt dieses Epos niemand auf die Idee kommen, den Finger zu erheben, um dies zu beanstanden. "Die Familie Hardelot" trägt insbesondere mit der Flucht vor den Deutschen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bereits einige Elemente von Némirovskys Meisterwerk "Suite française" in sich, darüber hinaus kommt man in Deutschland nicht umhin, an Thomas Manns Lübecker Patrizierfamilie Buddenbrooks zu denken. Wer eher trivialer Literatur zugeneigt ist, wird eventuell auch Parallelen zu "Sturz der Titanen", dem neuesten Werk von Ken Follett, ziehen mögen, obgleich die Erkenntnisse im vorliegenden Werk deutlich subtiler herausgearbeitet und vorgetragen werden.

Für Liebhaber großer Familienromane ist "Die Familie Hardelot" schlicht ein Muss. Brillant konturierte Charakterzüge der Protagonisten in den festgefahrenen Strukturen, die in vielen europäischen Familien des bourgeoisen Bürgertums zu jener Zeit vorherrschten, sind der Verdienst Irene Némirovskys, die mit diesem leicht zugänglichen Hörbuch garantiert viele neue Fans hierzulande hinzugewonnen hat, so dass abzuwarten bleibt, welche Werke der leider viel zu früh verstorbenen französischen Autorin in den kommenden Jahren auf dem deutschen Markt neu in den Fokus gelangen werden.

Christoph Mahnel
11.04.2011

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Irene Némirovsky: Die Familie Hardelot. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer

CMS_IMGTITLE[1]

Sprecherin: Iris Berben
München: Random House Audio 2010
Spielzeit: 440 Min., € 24,99
ISBN: 978-3-8371-0702-9

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.