Hörbücher
Lessings Drama als Jugendroman neu verfasst
Gut 230 Jahre ist Gotthold Ephraim Lessings Drama "Nathan der Weise" nun schon alt. Im Deutsch-Unterricht wird das Theaterstück immer wieder aufs Neue interpretiert. Insbesondere die Ringparabel ist heutzutage von ebenso fundamentaler Bedeutung wie bei seiner Veröffentlichung im Jahre 1779. Die Aktualität dieses Ausnahmewerkes beweist Mirjam Pressler mit ihrer Prosafassung "Nathan und seine Kinder" und ermöglicht damit Jugendlichen außerhalb der Schulmauern einen Zugang zu Lessings bekanntestem Drama.
Jerusalem im Jahre 1192: Der Jude Nathan kehrt von einer Geschäftsreise zurück und muss Grausames erfahren. Seine Tochter Recha war in den Flammen ihres brennenden Hauses eingesperrt. Gerettet werden konnte sie durch das beherzte Eingreifen von Tempelritter Curd von Stauffen, dem einzigen Überlebenden, der von Sultan Saladin begnadigt wurde. Es braucht nicht lange bis Recha Gefühle für den Ritter entwickelt, die dieser erwidert. Doch ein Hindernis versperrt ihnen den Weg zu einer gemeinsamen Zukunft: Recha ist Jüdin, von Stauffen ist christlichen Glaubens. Ein scheinbar unüberwindliches Hindernis.
Während Recha und ihr Lebensretter sich langsam näher kommen, steht Nathan gleichfalls eine Herausforderung bevor. Er wird zum Sultan gerufen, der dem Juden um Geld bitten will. Saladin hat es aber nicht nur auf ein Darlehen abgesehen, er möchte auch Nathans Ruf, ein Weiser unter den Weisen zu sein, genauestens der Prüfung unterziehen. Er stellt dem Kaufmann die Frage, welche der drei Religionen die richtige sei. Nathan antwortet mit der Ringparabel. Diese Souveränität, mit der der Jude die Fundamentalfrage beantwortet, und sein unermesslicher Reichtum mehren den Neid seiner Gegner. Als Nathan den Palast verlässt und sich mit seinem Vertrauten auf den Heimweg begibt, wird er überfallen und dabei tödlich verwundet. Eine Tragödie, die noch längst nicht ihr Ende gefunden hat. Schließlich ist nun Rechas Zukunft ungewiss, die nichts mehr herbeisehnt als eine Ehe mit Curd von Stauffen. Dabei wäre dies doch nicht so undenkbar, denn Recha ist nicht Nathans leibliche Tochter, sondern wurde einst von ihm adoptiert. Und doch ist nichts mehr wie zuvor. Und eine Liebe zwischen den beiden scheint undenkbarer als vor dem Überfall.
Mirjam Pressler hat mit "Nathan und seine Kinder" einen großen Coup im Jugendbuchbereich gelandet. Diverse Auszeichnungen und Nominierungen konnte die literarische Umdeutung von Lessings Ursprungsdrama bereits für sich verbuchen. Und dies ist auch kaum verwunderlich, denn schließlich ist die Geschichte um Toleranz, Humanismus und (Religions-)Freiheit in Zeiten von Terrorismus und Religionskämpfen aktueller denn je. Wer nun allerdings glaubt, dass Pressler um die Dialoge einfach einen Nebentext gebastelt hat, der irrt sich gewaltig. Sie verleiht ihrem Werk eine besondere Klangfärbung, die sich trotz ähnlichen Inhaltes des Originals grundlegend von Lessings Drama unterscheidet. Sie lässt jeden zu Wort kommen und wandelt auch den Schluss um, sodass eine neue Dimension des Ideendramas entsteht, die Jung und Alt auf einer gemeinsamen Ebene zu vereinen weiß.
Pressler gelingt es, den Rezipienten in die Handlung hineinzuziehen, die vor unterschwelliger Spannung, bedeutungsschwangerer Atmosphäre und Lebendigkeit regelrecht zu vibrieren scheint. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die acht Sprecher, die den Ereignissen eigene Nuancen geben und somit dem Leser vorspielen, ein echtes Drama vor sich zu haben - beinahe so als säße man im Theater und schaue den Darstellern bei ihrer Darbietung zu. "Nathan und seine Kinder" beweist einmal mehr, dass alte Literatur kein trockener Stoff oder langweilig sein muss. Vielleicht wird es Zeit, den derzeitigen Deutsch-Unterricht zu überdenken?! Mirjam Presslers Jugendroman ist schon einmal ein guter Anfang.
Susann Fleischer
26.04.2010