Hörbücher

Der "Ohrenzeuge" des 20. Jahrhunderts

Am 25. Juli 2005 wäre Elias Canetti 100 Jahre alt geworden. Der Hörverlag nimmt dieses Jubiläum zum Anlass, zwei seiner bekanntesten Werke erneut zu edieren, Werke, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Seinen einzigen Roman "Die Blendung" (1935), Hörspiel des Jahres 2002, in edlem, vierteiligen Booklet, sowie "Die Stimmen von Marrakesch" (1968), vom Nobelpreisträger selbst gelesen.

Herr Prof. Kien, seines Zeichens Privatgelehrter und größter lebender Sinologe, wird gleich im Eingangsmonolog – ein Gespräch mit einem Nachbarsjungen, den er nach Jahren das erste Mal wahrnimmt – als in sich verkapseltes Individuum vorgestellt, das seine Außenwelt nur insofern wahrnimmt, als sie ihm sein Ego widerspiegelt. Eine Leibnizsche Monade, jedoch ohne Fenster zur Außenwelt; wen wundert's, dass sein Arbeitszimmer keine Fenster an der Wand, sondern nur an der Decke hat, um so eine vierte Fläche für Bücherregale schaffen zu können. Für Kien sind die Worte “Heimat” und “Bibliothek” gleichbedeutend. Mit der seiner Ansicht nach großherzigen Geste, seine “Wirtschafterin”, Therese Krumbholz, für ihren nun schon acht Jahre währenden, aufopferungsvollen Dienst an seinen Büchern gewissermaßen zu entlohnen, vor allem jedoch, um sie weiter an sich zu binden, heiratet er die 16 Jahre ältere Frau – und gräbt sich damit sein eigenes Grab. Nach und nach nimmt sie die ganze Wohnung Kiens in Beschlag, gibt sein Geld für teure Möbel aus und fordert schließlich mit herausfordernder Geste ein Testament ein. Kien flieht vor dieser Anmaßung, als ziellos umher taumelnde Monade, ohne das Koordinatensystem seiner Bibliothek, geht er denn auch sofort in die Netze des buckligen Gauners Fischerle.

Libgart Schwarz spricht die beschränkte Krumbholz mit dem immer schief gelegten Kopf und dem blauen, gestärkten Rock, der ihren Körper wie eine Muschelschale fest umschließt, so bösartig, hinterhältig und dumm, dass man sie, nachdem sie das: “Aber ich bitt' Sie.” zum hundertsten Male repetiert, am liebsten eigenhändig erwürgen möchte. Doch lässt Canetti an keiner seiner Figuren ein gutes Haar, ob es der Hausmeister Benedikt Pfaff und dessen Motto: “Das Schlagen [von Frauen] ist eine Kunst.”, oder der durchtriebene Fischerle ist, der am Ende den Buckel abgeschnitten bekommt und damit auf grausige Art und Weise von seinem Makel befreit wird. Canetti führt die Realität als verzerrtes Spiegelbild vor, mit bösem Blick seziert er ihre Oberfläche, und entreißt ihr jene Gestalten, die im Hörspiel durch die sorgfältig ausgewählten Stimmen zu leibhaftiger Existenz erwachen. 

Der Bücherbrand, den Kien von Anfang an gefürchtet hat und schließlich selbst herbeiführt, treibt die Handlung noch ein letztes Mal auf die Spitze. Sein “Volk” darf ihn, den “obersten Kriegsherrn”, nicht überleben... “Die Blendung” ist nicht nur der irrwitzige Tanz menschlicher Eitelkeit und Verderbtheit, Canetti legt mit diesem wahrhaft prophetischen Werk auch den Finger auf die Wunde seiner Zeit.

Von ganz anderer Qualität ist das Resultat der Aufzeichnungen, die Canetti 1954 auf seiner Marrakesch-Reise festgehalten hat. Mit dem Charme eines alten Geschichtenerzählers trägt uns Canettis Stimme weit fort, in den Orient, in eine seltsam fremde Welt voller Geheimnisse, deren Zauber durch das Erzähltwerden eher vermehrt als vermindert, vielleicht sogar erst erschaffen wird.

Und die Stimme des Erzählers lässt andere Stimmen erklingen, die sie entweder gut zu modulieren weiß oder aber anschaulich zu beschreiben vermag: Die Stimme des Kamelverkäufers, die wie ein “abgewetztes Messer” klingt (ganz in Übereinstimmung mit seiner Tätigkeit, die Kamele an die Schlächter weiterzuleiten); die leise, weiche, zärtliche Stimme der verrückten Frau hinter dem Gitter, wie das Murmeln eines Brunnens, dem unablässig Koseworte entspringen; der lang gezogene Ton des “Unsichtbaren”, der “Laut, der alle anderen Laute überlebte”, da er sich nach dem geschäftigen Treiben des Tages des Nachts umso dringender bemerkbar macht; das Tätscheln der Brotleiber, deren Form denen der Frauen, die sie buken, ähnelt; das “manger” der aufgerissenen Kindermünder, die vor den Restaurants der Ausländer betteln.

Canetti sucht die Begegnungen mit den Menschen, er beobachtet sie und ihr Gebaren mit Neugierde, die nicht aufdringlich sein will, manchmal dann aber doch in ein Staunen mündet, in dem er sich selbst vergisst und völlig im Moment aufgeht. Er lässt sich von einer Sprache verzaubern, die er nicht versteht, und die er absichtlich nicht verstehen will. “Von den Lauten so getroffen werden, wie es an ihnen selbst liegt” – Canetti will, genauso wie er völlig unvoreingenommen einer ihm fremden Kultur begegnet, die Unmittelbarkeit, die Sinnlichkeit ihrer Sprache erfahren. Und während er im Kreis derer steht, die gebannt den Geschichtenerzählern im Marktgewühl lauschen, denkt er an die Feigheit seiner Zunft, Gedanken hinter dem Schutz des Schreibtischs auf Papier niederzuschreiben, statt sie mutig der Menge darzubieten. Immerhin – seinen auf CD gebannten Worten lauscht man mit einem Gefühl der Enthobenheit, dass poetischen Offenbarungen eignet.

Nicole Stöcker
05.01.2006

 
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Das Buch:

Elias Canetti: Die Blendung

CMS_IMGTITLE[1]

Hörspielbearbeitung: Helmut Peschina
Regie: Robert Matejka
Sprecher: Felix von Manteuffel, Peter Simonischek, Libgart Schwarz
Spielzeit: 173 Minuten
der hörverlag 2003/2005
ISBN: 3-89940-070-4

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Elias Canetti: Die Stimmen von Marakesch

CMS_IMGTITLE[4]

vom Autor gelesen Spielzeit: 140 Minuten, ? 19,95 der h?rverlag 1995/2005 ISBN: 3-89940-546-3

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