Hörbücher

Von Frauen, Raubkunst und Generationenkonflikten

Die 27-jährige Hannah fristet ihr Leben zwischen dem Schreiben ihrer Dissertation und den Besuchen bei ihrer 94-jährigen Großmutter Evelyn in der Seniorenresidenz. Mit der Dissertation geht es nicht richtig voran und ihre Oma, so Hannahs Eindruck, wartet eigentlich nur noch auf den Tod. Doch verbindet Großmutter und Enkelin trotz eines oft ruppigen Tons ein ganz besonderes Band. Sie sind nämlich die letzten lebenden Mitglieder ihrer Familie. Hannahs Mutter und Evelyns Tochter ist bereits vor Jahren gestorben und die männlichen Familienmitglieder sind entweder ebenfalls tot oder spielen keine Rolle.

Eines Tages entdeckt Hannah bei ihrer Großmutter einen Brief von einem israelischen Anwalt, der an Evelyn als Erbin eines von den Nazis geraubten Kunstschatzes gerichtet ist. Jüdische Verwandte waren Hannah bisher nicht bekannt, und ihre Großmutter weigert sich zunächst, auf den Brief sowie auf die Fragen ihrer Enkelin einzugehen. Zu tief sind die Wunden, die Evelyns leibliche Mutter Senta bei ihrer Tochter hinterlassen hat. Senta wurde in den 1920er-Jahren als junge Frau ungewollt schwanger. Die folgende Heirat und das Leben als Mutter durchkreuzen die Pläne der lebensfrohen Frau, die eigentlich nach Berlin gehen und Journalistin werden wollte.

Nach einigen freudlosen Jahren als Mutter und Ehefrau bricht Senta aus diesem Leben aus, lässt ihr Kind bei der Schwester ihres Mannes und geht nach Berlin. Sie wird dort Journalistin und trifft Julius Goldmann, Sohn des jüdischen Kunsthändlers Itzig Goldmann. Die beiden heiraten, müssen aber schon bald vor den Nazis ins Ausland fliehen.

Fast ein ganzes Jahrhundert später ist es Hannah, die sich auf die Spuren ihrer Urgroßmutter und der geraubten Kunstwerke, darunter ein Gemälde namens "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" von Jan Vermeer, begibt.

Das fiktive Gemälde von Jan Vermeer ist nicht nur titelgebend für Alena Schröders Romandebüt, sondern auch der Aufhänger, der Hannah überhaupt erst auf die Reise in die Vergangenheit gehen lässt. Schröder, die bisher als Journalistin und Sachbuchautorin tätig war, begibt sich mit ihrem ersten Roman auch in ihre eigene Vergangenheit und verknüpft Teile ihrer eigenen Biografie mit fiktiven Elementen.

Obwohl die geraubten Gemälde Ausgangspunkt der sich langsam entspinnenden Geschichte sind, sind die von Alena Schröder gezeichneten Frauenfiguren die eigentlichen Highlights dieses Romans: eine Frau in den wilden 1920ern, die unabhängig und selbstbestimmt leben möchte und sich den Vorwurf gefallen lassen muss, eine schlechte Mutter zu sein; die zurückgelassene Tochter, die sich während des Kriegs für ein Medizinstudium entscheidet und in ihrem weiteren Leben auch mit der Mutterschaft hadert; und auch Hannahs Mutter sowie Hannah selbst führen ein unkonventionelles und bisweilen unentschlossenes Leben. Hannah schreibt ihre Dissertation eigentlich nur, um ihrem Doktorvater näherzukommen und weil sie ansonsten keinen Plan hat, wie sie ihr Privat- und Berufsleben gestalten soll. Doch die Reise in die Vergangenheit ist nicht nur für Evelyn ein letzter schmerzhafter Prozess zu Lebzeiten, sondern löst auch bei Hannah einige Blockaden, die sie bisher an einem selbstbestimmten Leben gehindert haben.

Gelesen wird Schröders Romandebüt in voller Länge von Julia Nachtmann, die nicht nur eine preisgekrönte Schauspielerin, sondern auch eine eifrige und gefragte Hörbuchsprecherin ist. Ihr Vortrag transportiert sowohl die zeitweilige Verlorenheit der Protagonistinnen wie auch ihre Verbitterung, Enttäuschung und Verzweiflung.

Alena Schröder hat für jeden etwas zu bieten: starke Frauenfiguren über vier Generationen hinweg, ein Stück deutscher Geschichte und die Identitätsfindung einer jungen Frau. Unterhaltsam, bisweilen poetisch und mit Potenzial zum Nachhalleffekt.

Sabine Mahnel 
17.05.2021

 
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Das Buch:

Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

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Sprecherin: Julia Nachtmann Hamburg: Hörbuch Hamburg 2021 Spielzeit: 652 Min., € 20,00 ISBN: 978-3-95713-200-0

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