Hörbücher
Back to the Fifties
Während heutzutage literarisch bevorzugt in Skandinavien gemordet wird, war in den Fünfziger und Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts England und insbesondere London die Sehnsuchtsgegend deutscher Krimi-Fans. Im Fernsehen liefen einst die deutschen TV-Produktionen der Edgar-Wallace-Krimis mit Joachim Fuchsberger und Co. rauf und runter, die Straßen waren ob der Suche nach einem Mörder mit Halstuch leergefegt, aber auch das Radio fesselte die Nation mit sehr gut gemachten Hörspielen, in denen britische Gentlemen gerissenen Ganoven das Handwerk legten. "Gestatten, mein Name ist Cox" war eine sehr erfolgreiche Produktion dieser Machart oder eben die verzwickten Fälle eines gewissen Paul Temple, der zusammen mit seiner Frau Steve Rauschgifthändler, Kindesentführer, Raubmörder oder sonstige Halunken dingfest machte.
Die den Paul-Temple-Hörspielen zugrundeliegenden Romane wurden von Francis Durbridge verfasst, dem britischen Krimiautor, der im Nachkriegsdeutschland auch für besagte Straßenfeger wie "Das Halstuch", "Der Andere" oder "Es ist soweit" sorgte. Für ein gutes Dutzend Fälle des smarten Ermittlers Paul Temple waren während der Fünfziger und Sechziger primär durch den WDR entsprechende Hörspiele produziert worden. Die Untersuchungen Temples wurden in der Regel jeweils in acht, circa 30 bis 40 Minuten dauernden Folgen abgeschlossen. Im Radio wurden sie einst Woche für Woche ausgestrahlt und vom Fingernägel knabbernden Publikum mit Hochspannung erwartet. Die Produktionen waren sehr aufwendig gestaltet, viele liebevolle musikalische Einspielungen sorgten für ein Hörerlebnis sondergleichen, das auch heute noch höchsten Ansprüchen gerecht wird. Dies hatte zur Folge, dass es sich Hochkaräter aus Film und Fernsehen nicht nehmen ließen, Teil dieser Produktionen zu sein.
Mit "Paul Temple - Die große Box" hat der Berliner Audio Verlag dieser Tage ein echtes Schmankerl auf den Markt gebracht. Insgesamt sechs Fälle, die im Zeitraum von 1953 bis 1962 vom WDR produziert worden waren, beinhaltet diese Schatzkiste. Paul Temples Ermittlungen in den Fällen Vandyke, Jonathan, Madison, Spencer, Conrad und Margo sorgen für insgesamt knapp 30 Stunden nostalgisches und spannendes Hörvergnügen zugleich. Auf jeweils einer mp3-CD findet sich ein Fall wider, wobei die Laufzeit eines solchen mal weniger, mal etwas mehr als fünf Stunden beträgt. Mit René Deltgen und - bis auf den Fall Madison - Annemarie Cordes sind die beiden Hauptrollen exzellent besetzt. Als Hörer ist man rasch in die Stimmen der beiden und deren charmante und intellektuelle Kabbeleien verliebt. Für die hohe Qualität der Paul-Temple-Hörspiele sorgen prominent besetzte Ensembles, in denen beispielsweise mit Gustav Knuth renommierte Schauspieler aus der Vor- bzw. Nachkriegszeit ihr Stelldichein geben.
Die Fälle des Paul Temple folgen stets einer ähnlichen Machart. Am Anfang steht in der Regel ein Mord, ein Verschwinden oder eine anderweitige Straftat, anschließend werden mit hoher Frequenz Charaktere aus dem Umfeld dieses Vorfalls eingeführt, so dass dem Hörer eine breite Riege an Kandidaten für die Suche nach dem Täter zur Verfügung steht. Durbridges Romane arbeiten nämlich mit dem klassischen Whodunit-Konzept, bei dem die Suche nach dem bis zum Ende nicht genannten Täter im Vordergrund steht. In den Fällen des Paul Temple ist die Mord- und Sterberate signifikant hoch: Wer dem oder den Tätern im Weg steht, wird einfach kaltgestellt. Am Ende betritt dann Paul Temple die Bühne und gibt Einblick in seinen analytischen und kriminalistischen Verstand, der sich vor einem Sherlock Holmes nicht verstecken muss und bei dem einem als Hörer vor Verblüffung der Mund offen stehen bleibt. Die von Temple gezogenen Schlüsse schießen auf die Verdächtigen ein und - peng! - ist klar, wer der Täter ist. Mitunter hat Durbridge auch noch einen Twister in allerletzter Sekunde eingebaut, der die Kandidaten - und hin und wieder auch den Hörer - schließlich völlig verwirrt.
"Paul Temple - Die große Box" ist ein Heidenspaß für Krimifans, Nostalgiker, Hörspielfans und Menschen, die sich an gut gemachter Unterhaltung erfreuen. Die Fälle des Paul Temple versetzten den Hörer in eine Epoche der bundesrepublikanischen Vergangenheit, die mit zahlreichen Relikten versehen ist, die für Krimis in der Gegenwart nicht mehr tragbar wären: Das Fräulein vom Amt, das für die Vermittlung von Telefongesprächen sorgt, die Bahn als Transportmittel Nummer Eins bei Überlandfahrten, Garderobenscheine zur geheimen Übergabe von Beweismitteln oder handschriftliche Einladungen zu Cocktail-Partys. Schön, dass noch etwas mehr als eine Handvoll deutschsprachiger Paul-Temple-Hörspiele übriggeblieben sind, damit der Audio Verlag vielleicht in naher Zukunft noch eine zweite Box mit den restlichen Fällen herausbringen mag.
Christoph Mahnel
03.06.2019