Hörbücher

Schweizer Verwirrspiel

Der Bibliotheksangestellte Ernst Stricker hat soeben am Berner Hauptbahnhof von einem Münzfernsprecher aus seine Frau angerufen, um ihr mitzuteilen, dass er später nach Hause kommen werde. Da klingelt plötzlich der benachbarte Apparat, Ernst nimmt reflexartig ab und hat eine Frau in der Leitung, die ihn sogleich mit seinem Vornamen anspricht. Obgleich offensichtlich ein anderer Ernst gemeint zu sein scheint, folgt er ihrer Bitte, sie zu Hause zu besuchen. Ernst begibt sich sogleich zu der alten Dame, die etwas für ihn bereithält. Angeblich habe ihr Ehemann, der vor vielen, vielen Jahren von einer Bergtour nicht zurückkehrte, ihr dieses Buch anvertraut, dessen Existenz sie trotz vermehrter Nachfragen in der jüngsten Vergangenheit konsequent leugnete. Ernst, von Berufs wegen neugierig, realisiert nach einem ersten Blick ins Buch, dass er ein ganz wertvolles Werk in Händen hält: den Abrogans, ein Übersetzungslexikon vom Lateinischen ins Althochdeutsche und eines der ältesten deutschen Bücher überhaupt.

Der Schweizer Autor und Kabarettist Franz Hohler ist bekannt für seine feinsinnigen Bücher über ganz normale Menschen, die in abstruse Situationen hineinschlittern, praktisch ohne etwas dafür zu können. "Das Päckchen" ist sein neuester Roman und passt wieder hervorragend in dieses Schema hinein. Parallel zur Buchausgabe hat Random House Audio eine Hörbuchversion produziert und herausgebracht. Aufgrund des überschaubaren Buchumfangs hat man sich dabei für eine ungekürzte Version entschieden. Es wäre auch schade für den Hörer, wenn nur ein Gedanke in diesem Verwirrspiel verloren gegangen wäre. Gut fünf Stunden dauert die Lesung, für die Gert Heidenreich gewonnen werden konnte. Gefühlt hat sich der Mann mit der wunderbar sonoren Stimme in letzter Zeit ein wenig rar gemacht, umso glücklicher darf sich der Hörer des vorliegenden Hörbuchs daher nun schätzen, dass sich der Mittsiebziger für diese Geschichte hinter das Mikrofon gesetzt hat.

Nachdem die Handlung in "Das Päckchen" zunächst nur von Ernst Stricker getragen wird, eröffnet Hohler urplötzlich einen weiteren Strang, versehen mit einer Zeitreise ins achte Jahrhundert nach Christus, wo ein junger Schreiber namens Heimo die Bühne betritt. Heimo beherrscht die Kunst des Schreibens bzw. des Abschreibens wie kaum ein Zweiter und ist daher höchst begehrt in den Klöstern, wo dies seinerzeit praktiziert wurde. Seine Reise führt ihn von Regensburg in südliche Gefilde, wo er auch - was nun keinen mehr überraschen dürfte - mit dem Abrogans in Berührung kommt. Des Weiteren nimmt die Geschichte auch noch Fahrt hinsichtlich der Frage auf, was mit dem in den Bergen verschollenen Ehemann der alten Dame passiert ist. Hier macht sich Ernst höchstpersönlich auf den Weg, um Licht ins Dunkel zu bringen und die Geschichte, die sein Leben auf den Kopf gestellt hat, aufzulösen.

Hohler überzeugt wie schon in seinen vergangenen Büchern wieder mit einem klaren und leicht verständlichen Schreibstil, den man auch als Konsument der gesprochenen Ausgabe zu schätzen weiß. Genau wie der Protagonist fühlt man sich auch als Hörer übertölpelt von den Ereignissen und ist verblüfft darüber, welche Konsequenzen eine einzige unscheinbare Lüge haben kann. So gerät Ernst zwischenzeitlich sogar unter Verdacht, am Tod der alten Dame mitschuldig zu sein, und ins Visier derjenigen, die den Abrogans in ihren Besitz bringen möchten und die Spur aufgenommen haben. Heidenreich erzählt die Geschichten in "Das Päckchen" dabei völlig unaufgeregt wie einer, der alles erlebt hat und den nichts aus der Ruhe bringen kann. Ganz im Gegensatz dazu steht der Protagonist Ernst Stricker, ein Paradeschweizer wie er im Buche steht, den der unvermittelt in seine Hände gelangte Abrogans komplett aus der Bahn wirft.

Trotz aller Turbulenzen, in die Ernst geraten ist, bestätigt "Das Päckchen" die Vorurteile, dass in der Schweiz die Welt grundsätzlich noch in Ordnung ist. Ein skandinavischer Roman zu dieser Geschichte hätte es garantiert nicht unter einer Handvoll Toten gemacht. Der Autor schreibt mit ganz viel Augenzwinkern, was in kleinen Randthemen sichtbar wird, wie dem Seitenhieb auf die Nutzung von Handys. Dank des eingegliederten Handlungsstrangs um den jungen Mönch Heimo liefert "Das Päckchen" auch noch einen spannend geschriebenen historischen Streifzug ins achte Jahrhundert. Die vorliegende Geschichte unterhält ganz famos, ohne bzw. fast ohne Sex und Crime. Dafür ist sie leicht geschrieben und dennoch packend. Das Leben mit Franz Hohler ist wirklich noch ein Gutes!

Christoph Mahnel
23.10.2017

 
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Das Buch:

Franz Hohler: Das Päckchen

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Sprecher: Gert Heidenreich
München: Random House Audio 2017
Spielzeit: 318 Min., 15,95 Euro
ISBN: 978-3-8371-4057-6

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