Hörbücher
Zwei Welten getrennt durch einen Ozean
Das Schicksal der beiden Halbschwestern Effia und Esi könnte nicht unterschiedlicher sein. Ohne voneinander zu wissen, wachsen die beiden Mädchen im Ghana des 18. Jahrhunderts - geprägt von Kolonialismus, Sklavenhandel und Stammeskriegen - auf. Effia wird an den englischen Sklavenhändler James Collins, der in der Heimat bereits Ehefrau und Kinder hat, verheiratet und lebt fortan komfortabel in der Festung von Cape Coast. Ihre Halbschwester Esi hingegen wurde mit 15 Jahren gefangengenommen und in die Sklaverei verkauft. Sie wartet nur wenige Meter entfernt von Effia im Verlies von Cape Coast auf die Verschiffung in die USA.
Fortan folgt die Erzählung abwechselnd Effias und Esis Nachkommen. Über insgesamt sieben Generationen hinweg tragen Quey, Ness, James, Kojo, Abena, H, Akua, Willi, Yaw und Carson auf beiden Seiten des Atlantiks ihre ganz eigenen Kämpfe mit dem Leben aus: vom Schicksal, ein Mischlingskind im kolonialisierten Afrika zu sein oder auf den Baumwollplantagen im Süden der USA der unerträglichen Hitze und den unmenschlichen Arbeitsbedingungen ausgeliefert zu sein, über die Generation der ersten "freien Schwarzen" in Amerika und die Schikanen der Rassentrennung bis hin zur heutigen Generation der Afro-Amerikaner. Mit Marjorie und Marcus, zwei gut ausgebildeten Amerikanern mit afrikanischen Wurzeln, endet nicht nur der Roman, auch der Kreis des Lebens oder zumindest dieser Familiengeschichte scheint sich hier zu schließen.
Yaa Gyasi, 1989 in Ghana geboren und als kleines Kind mit ihren Eltern in die USA immigriert, hat mit "Heimkehren" einen beeindruckenden Debütroman hingelegt, der in den USA bereits für große Furore gesorgt hat. Preise, Ehrungen und Lob von allen Seiten wurden der jungen Afro-Amerikanerin bereits zuteil. Erstaunlich ist, dass Gyasi schreibt, als hätte sie die Lebenserfahrung und die Weisheit einer 60-Jährigen. Nichts an ihrem Stil lässt auf ihr tatsächliches Alter schließen. Sie kreiert für jeden ihrer Protagonisten ein ganz eigenes Schicksal, von den kleinen Problemen des Alltags bis zu den Problemen, die das große Ganze und damit die Geschichte zweier Länder bzw. zweier Kontinente - getrennt durch einen Ozean - sichtbar werden lassen.
Sieben Generationen, 14 Protagonisten und jeweils ein Kapitel für jeden - in der Buchausgabe auf gut 400 Seiten gedruckt, in der ungekürzten Hörbuchausgabe auf zwei mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von knapp zwölf Stunden gepresst. Nicht oft passiert es, dass eine Buchvorlage derart gestaltet ist, dass man den Roman mit der Hörbuchausgabe noch eine Stufe höher heben kann. Doch die Struktur dieses Romans, bei dem jedes der 14 Kapitel für eine der 14 Personen vorgesehen ist, schreit förmlich danach, dass man die Lesung mit 14 unterschiedlichen Sprechern realisiert. Dass jeder Protagonist von einem anderen Sprecher interpretiert wird, ist für den Hörer ein ganz besonderer Genuss, vor allem, weil ein exzellentes Ensemble an Schauspielern und geübten Hörbuchsprechern für dieses Projekt gewonnen werden konnte. Bibiana Beglau, Wanja Mues, Bjarne Mädel, Stefan Kaminski und Jodie Ahlborn sind nur einige der Namen, die in der Liste der Sprecher von "Heimkehren" zu finden sind.
Für das Debüt der jungen Autorin muss man den Begriff Familiensaga auf den Begriff Menschheitssaga ausdehnen, denn das Schicksal dieser Familie, die zu beiden Seiten des Atlantiks ums Überleben kämpft, ist übertragbar auf das Schicksal ganzer Generationen - Weißer wie Schwarzer - und gewährt einen Blick in die Abgründe der Menschheit. Gyasi hat die Leiden Vieler in der Schilderung Weniger sichtbar gemacht, indem sie den Leidenden und damit dem Leiden Namen und eine Identität gegeben hat.
Sabine Mahnel
25.09.2017