Romane

Blicke auf das entstehende Bild vom eigenen Leben

Verlässt man sich auf seine Alltagsaugen, so fährt das Buch von Gabriele Bönisch im Bahnabteil nach Frankfurt, später nach Berlin. Aber das dauert nur so lange, bis der Leser merkt, dass es eine Reise nach innen ist, was unter dem Titel "Das Glaszimmer" von statten geht. Man spürt das alles recht rasch, schon an der Ich-Form, die mit der unverkennbaren Stimme einer Frau den Leserinnen und Lesern erzählt.  

Das Glaszimmer erlaubt die vielen Blicke nach allen Seiten, vorwärts eilend, aber im Grunde doch immer in die Erinnerungen hinein, die Eindrücke von damals. Eine vortrefflich erzählte Entdeckungsfahrt durch Blättern im Erlebten. Das Mädchen von früher bestückt sein Lebensgefühl mit diesen Eindrücken, die fast spielend wechseln. Allerdings: Man wechselt seine Erinnerungen nicht, indem man Kistchen wechselt. Die Psyche taucht konturlos ein und taucht auch so wieder auf, die Fantasie hat feste Kanten gar nicht nötig. So wurde aus dem Buch ein echter und nachvollziehbarer Lebensbericht. Das Mädchenpensionat, die Nachbarn, die kurzen Passagen aus Gesprächen, die Emotionen. Als würde sich Gabriele Bönisch einem Gast mitteilen, der nicht nur ihren Worten folgt, sondern auch ihrem Innehalten. 

Langsam und unaufhaltsam bricht die DDR als Grunderlebnis der Familie hervor. Der Krieg, der Vater, die Gefängnisse, sie haben Belastungen zusammengetragen, die auf Verarbeitung hoffen. Es sind späte Rückbezüge. Aber gerade daraus schöpft Gabriele Bönischs Buch seine Spannkraft. Damit wird aus dem Roman kein stapelndes Geschichtsbuch, sondern eine dauernde Tiefensuche. Das hätten wohl viele Leser nicht erwartet, dass aus der Bahnfahrt so etwas wird. Das Buch gewinnt an Eindrücklichkeit, auch wenn man gegen Schluss der Lektüre die Autorin zu sehen glaubt, wie sie am Ort bleibend sinniert und sinnt, ohne je einen Schritt zu tun.  

Am Anfang erscheint die Erlebnisfahrt als Wagnis, angegangen mit fest geplanter Zuversicht. Am Schluss hat man sie als meisterhaftes Bild vor Augen, das verrät, wie eine aufmerksame Autorin die psychisch wichtigen Halte und Wendepunkte ihres Lebens beleuchtet hatte, ohne sich davon zu machen, im Drang, so etwas wie Wertung und Konklusion zu finden. Dieses sehr Persönliche, das in ihrem heimlichen Versteck, dem Glaszimmer, beobachtbar wird, zieht beim Lesen stark an und lässt nicht mehr los. Vielleicht, weil dieses Muster des Verarbeitens übernommen werden könnte? Ist das nicht immer und überall der heimliche Zweck eines solchen Buchs, Anreize zu geben?  

Ronald Roggen
06.03.2017

 
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Das Buch:

Gabriele Bönisch: Das Glaszimmer

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Frankfurt am Main: Weimarer Schiller-Presse 2017
105 S., € 11,80
ISBN: 978-3-8372-1959-3

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