Romane

Eloquenter Fötus

Es ist eine Dreiecksgeschichte nach Hamlet-Motiven: Die hübsche Trudy ist mit dem Verleger und Lyriker John verheiratet, sie erwarten ihr erstes Kind. Doch Trudy ist ihres etwas weltfremden und allzu schöngeistigen Ehemanns überdrüssig geworden und hat ihn vor die Tür gesetzt. Stattdessen bandelt sie mit Johns Bruder Claude, geistlos und ständig TV-Jingles oder Klingeltöne pfeifend, an. Zusammen mit ihrem Liebhaber schmiedet Trudy Mordpläne. John mag zwar ein erfolgloser Verleger und ständig in Geldnöten sein, doch eines besitzt er, das Trudy ganz für sich und Claude haben möchte: ein zwar heruntergekommenes, doch sehr wertvolles Einfamilienhaus in bester Londoner Lage. 

Womit Trudy und Claude bei ihrem Mordkomplott nicht rechnen, ist die Mitwisserschaft des ungeborenen Kindes. Dieser Fötus, der kurz davorsteht, den Mutterleib zu verlassen, ist der Ich-Erzähler dieses modernen Shakespeare-artigen Dramas. Der ungeborene Junge ist zwar noch nicht auf der Welt, doch weiß er genug, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Welt da draußen außerhalb des Mutterleibs verdorben ist und dass er um seine Existenz fürchten muss. Er sieht sich bereits im Gefängnis aufwachsen oder - noch viel schlimmer - sowohl von seinem Vater als auch von seiner Mutter verstoßen. Sein Wissen über die Welt hat er durch das Radio erworben, durch die vielen Podcasts, die sich seine Mutter in schlaflosen Nächten anhört, und durch die Gespräche, die Trudy mit Claude führt. 

Doch wer nun denkt, dass der Fötus brabbelt à la "Kuck mal, wer da spricht", liegt völlig falsch. Das Ungeborene in Trudys Bauch ist von scharfem Verstand, eloquent, bewandert in Literatur und ein echter Weinkenner. Letzteres hat er dem unglücklichen Umstand zu verdanken, dass seine Mutter trotz Schwangerschaft öfters zur Weinflasche greift und es meistens auch nicht bei einem Glas belässt. 

Zusammen mit dem Fötus erlebt der Leser die Welt aus einer sehr beschränkten Situation heraus, nämlich der Enge des Mutterleibes am Ende der Schwangerschaft. Beschränkt auch deshalb, weil man sich nur auf das Gehörte verlassen kann, das die einzige Verbindung zur Außenwelt darstellt. Untätig und zum Abwarten verdammt, muss der Fötus die Mordpläne seiner Mutter und seines Onkels mitanhören, bis er letztlich die einzige ihm zur Verfügung stehende Möglichkeit nutzt und in den Lauf der Geschichte eingreift. 

Ian McEwans Romane sind nie gewöhnlich, weder in Stil und Sprache noch von der Thematik oder dem Blickwinkel her. In seinem großen Durchbruch "Abbitte", der 2001 Vorlage für eine erfolgreiche Hollywood-Verfilmung war, lässt er den Leser am Ende durch einen geschickten Kunstgriff die gesamte Handlung noch einmal überdenken. In "Der Zementgarten" reicht die Spanne der Themen von Inzest über Transsexualität bis zu sozialer Isolation, die es vier minderjährigen Vollwaisen ermöglicht, den Tod der Mutter zu vertuschen, indem sie sie im Keller in einer Kiste mit Zement begraben. Der Leser wird von McEwan immer wieder in ungewohnte Gefilde entführt - sowohl gedanklich als auch körperlich. In "Nussschale" ist dies der Mutterleib, in dem sich der Fötus bereits die Frage nach "Sein oder Nichtsein" stellen muss. Neben der Anspielung auf Brudermord und Rachepläne aus Shakespeares Hamlet ist "Nussschale" zugleich auch Krimi, Familienseifenoper und Kammerspiel mit Gesellschaftskritik, eben ein moderner Hamlet mit einer Prise Flüchtlingskrise und Klimakatastrophe. 

Sabine Mahnel
16.01.2017

 
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Das Buch:

Ian McEwan: Nussschale. Aus dem Englischen von Bernhard Robben

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Zürich: Diogenes Verlag 2016
277 S., € 22,00
ISBN: 978-3-257-06982-2

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