Romane
Zettls Traum oder mein Nein zum Teppichkämmen
Im Sommer 1974 spricht man noch nicht von einem Sommermärchen, wie es 32 Jahre später bei der zweiten Fußball-Weltmeisterschaft auf deutschem Boden von allen Schlaaand-Anhängern gefeiert werden sollte. Doch für Pauls Vater, einen völlig fußballverrückten Frisör aus dem Frankfurter Westend, fühlt es sich schon genauso an. Der knapp dreizehnjährige Paul beobachtet den Fußball-Wahnsinn seines Vaters jedoch argwöhnisch, da seine nur wenig an Fußball interessierte Mutter sich immer mehr von ihrem Mann distanziert und die Streits der beiden immer länger dauern und immer lauter verlaufen. Für Paul Neumann läuft in diesem Sommer - im Gegensatz zur deutschen Nationalmannschaft - nicht alles nach Plan.
Frau Schellack, die Nachbarin der Neumanns, stirbt am Ende dieses Sommers. Aufgrund einer Verkettung höchst unglücklicher Umstände fühlt sich Paul für ihren Tod schuldig. Doch ist dies beileibe nicht Pauls einzige Baustelle, daneben gibt es noch den kurz vorm Finale zerstörten heimischen Fernseher, den Flokati-Teppich, für dessen regelmäßiges Kämmen und Bürsten Paul kein Interesse mehr zeigt, und ein Buch namens "Zettl's Traum", das sein Vater wie ein Geheimnis mit sich herum trägt und dessen Lektüre sich Paul für den Sommer selbst auferlegt hat. Wie schwierig der Schritt aus der Kindheit hin zum Erwachsenwerden tatsächlich sein kann, sieht Paul an einem Nachbarssohn, dem merkwürdigen Emil Bartoldy, der mit seiner Schildkröte spazieren geht und vergeblich versucht, ihr eine positive Reaktion bei der Nennung von abertausenden von Namen zu entlocken. Alles in allem fällt es Paul wirklich nicht leicht, die Vorgänge auf dem Planeten Erde in diesen turbulenten Zeiten seines Lebens zu verarbeiten.
Autor dieses Romans übers Erwachsenwerden, neudeutsch auch gerne als "Coming of Age"-Roman bezeichnet, ist mit Martin Schult ein Mann, dessen eigene Vita nicht ganz kongruent mit derjenigen von Paul Neumann ist, aber sich in den wesentlichen Eckpunkten durchaus ähnelt. Schult ist Jahrgang 1967 und lebte ab Mitte der Siebziger Jahre im Frankfurter Westend, hat also die Zeit und den Ort der Handlung seines Debütromans "Flokati oder mein Sommer mit Schmidt" selbst geatmet. Einen kuriosen und Interesse weckenden Titel hat der Autor zweifelsohne gewählt. Neben dem bereits erwähnten Familienheiligtum handelt es sich bei Schmidt jedoch nicht um den während der WM amtierenden Bundeskanzler Helmut Schmidt, sondern um den Autor besagten Wälzers "Zettl's Traum", Arno Schmidt. Glücklicherweise hat Schult seinen Lesern leichtere Kost aufgetischt als jener Schmidt Paul und seinem Vater.
Die Struktur des vorliegenden Buchs ist zunächst ein wenig gewöhnungsbedürftig. Da schreibt Paul zahlreiche Briefe, die mit Oktober 1974 datiert sind, an seine Lehrerin Frau Ludwig. Scheinbar ist Paul abgehauen und bereitet mit diesen Briefen nicht nur den Leser, sondern auch seinen Lehrerin, die womöglich diese Briefe aber noch gar nicht erhalten hat, darauf vor, welche schicksalhaften Wege Pauls Sommerferien denn genommen haben. Diese Haupthandlung erzählt Paul zwar weiterhin in der Ich-Form, jedoch abseits der Briefe in schlichter Prosa. Die Kapitelüberschriften orientieren sich am Turnierverlauf der deutschen Fußball-Nationalmannschaften, beginnen also mit Chile, Australien, DDR, und so weiter. Dabei beharrt der Autor aber keineswegs auf durchgängigen und tiefgehenden Spielbeschreibungen, manches Mal wird ein Spiel der Männer von Helmut Schön auch nur mit einer Randnotiz erwähnt.
"Flokati oder mein Sommer mit Schmidt" mag bei dem einen oder anderen Leser aufgrund seiner Ankündigungen die Erwartung an eine Beschreibung von Kindheitserinnerungen aus den Siebzigern geweckt haben, dies ist es jedoch garantiert nicht. Zwar gelingt es Martin Schult sehr gut, den Zeitgeist einzufangen und im Buch darzustellen, doch primär dreht sich alles um die Gedankenwelt des Paul Neumann. Das Buch liest sich geschmeidig, dennoch verleitet es einen nicht unbedingt, die gut zweihundert Seiten in einem Rutsch durchzupflügen. Es beinhaltet eine Geschichte, die unterhaltsam ist und mit interessanten Gedankengängen wie auch schönen Pointen aufwartet, doch wird man kaum behaupten können, dieses Buch unbedingt gelesen haben zu müssen. Letztlich lässt sich im Hinblick auf kommende Sommertage eine Leseempfehlung aussprechen, insbesondere natürlich für Leser mit einem Gefühl für eine Kindheit in den Siebzigern.
Christoph Mahnel
04.04.2016