Romane

Aus den Fehlern der Gegenwart lernen , um eine glückliche Zukunft zu gestalten

Kennen Sie das Jugendbuch "Hüter der Erinnerung" (oder den gleichnamigen Film)? Als ich Eckart Johns Buch gelesen habe, hat es mich teilweise sehr an die fiktive zukünftige Gesellschaftsform erinnert, die Lois Lowry in ihrem Roman beschreibt. Allerdings zeichnet Eckart keine Dystopie, sondern in weiten Teilen eine Utopie - die beste für ihn denkbare zukünftige Gesellschaft, die aus der jetzigen erwachsen könnte.

Die Kapitel gliedern sich auf in solche, welche die fatalen Entwicklungen der Gegenwart - aus der Perspektive einer zukünftigen Generation rückblickend als Vergangenheit betrachtet - detailliert benennen und darlegen, und demgegenüber anderen, in denen aus dem Leben verschiedener Charaktere dieser futuristischen Gemeinschaft erzählt wird.

Die "Analyse"-Kapitel gehen auf Themen wie das heutige Wirtschaftsystem, Umweltzerstörung und Klimawandel ein und skizzieren den imaginären, aber nicht undenkbaren Weg in ein weltweites apokalyptisches Szenario, an dessen Ende eine kleine Gruppe von Menschen sich auf den Trümmern des alten Systems eine neue Lebens- und Gesellschaftsform errichtet.

Diese wiederum ist die Grundlage der "Roman"-Kapitel. Erzählt wird zum einen über das Ehepaar Stea und Andro sowie deren Kinder und Bekannte. Auffällig ist vor allem das hohe Maß an Harmonie, reflexivem Bewusstsein und Entschleunigung, welches das Leben der Menschen zu prägen scheint. Stea etwa geht in Ruhe bummelnd durch die Geschäfte (freien Konsum gibt es also wohl noch) und genießt einfach die schöne Zeit, so auch im Gespräch mit einer alten Dame, die kurz darauf glücklich und friedlich verstirbt. Die Kinder des Paars lernen in der Schule, sich und ihr Leben zu hinterfragen und reden darüber in respektvollem Austausch mit ihren Eltern. Die Charaktere zeigen ein beeindruckendes Einfühlungsvermögen in ihr Umfeld - etwa Andro bei seinem Sohn, als dessen Kaninchen gestorben ist - Momentaufnahmen, die zeigen, wieviel empathischer Menschen nun miteinander umgehen.

Auch wenn nicht ganz klar wird, ob sich die Eheleute ihre Berufe (Andro arbeitet in der Landwirtschaft, Stea in der Gemeindezentrale) selbst ausgesucht haben, scheinen sie darin in jedem Fall glücklich zu sein. Über Stea erfährt der Leser, dass Schwangerschaften genauestens geplant werden, damit sich die Bevölkerung nicht unkontrolliert vermehrt, was als eines der Probleme der Vergangenheit angesehen wird. Ebenso werden Kinder ab dem Säuglingsalter in Kindergärten betreut. Dies sind zwei der wenigen Punkte, die bei dieser schönen Zukunftsvision einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen.

Zudem bekommt man Einsicht in die Gedanken von Simon Rocca, einem der "Bewahrer", welche die Vorgänge der Vergangenheit analysieren, damit sich deren fatale Entwicklung nicht wiederholen kann (daher meine Assoziation mit dem "Hüter der Erinnerung", in dieser Geschichte gab es ein ähnliches Amt). Die Kapitel aus Simons Perspektive erscheinen als eine Verbindung zwischen Analyse- und Romananteil.

Eckarts Betrachtung der bedrohlichen Entwicklungen unserer Zeit sind sehr präzise und seine Schlussfolgerungen durchaus nachvollziehbar (ob man ihnen zustimmt oder nicht).

Grundsätzlich gefiel es mir auch, mich in die von ihm entworfene harmonische, philosophisch geprägte und selbstreflektive Gesellschaftsform hineinzulesen. Was mir aber dabei immer durch den Kopf ging: Um ein solch friedliches, wohlwollendes und nachdenkliches Zusammenleben zu erreichen, bräuchte es einen Bewusstseinssprung in der Menschheit an sich (auch wenn es sich hier nur um eine kleine Gruppe handelt). Und dieser ist, zumindest aus meiner Sicht, sehr unrealistisch. Natürlich ist es schön, wenn Kinder ihre Eltern immer respektierten, Eltern sich einfühlsam um ihre Kinder sorgen und alle miteinander und voneinander lernen, die Menschen stets füreinander da sind und sich vertrauensvoll miteinander austauschen über das, was sie bewegt und womit sie Probleme haben.

Es wäre schön, wenn Zeit wieder ein Wert an sich wäre, jeder Mensch als gleichwertig angesehen werden würde und wirklich die Wahlmöglichkeit hätte, aus seinem Potential das zu machen, was er sich wünscht.

Das wird aber leider sehr wahrscheinlich nicht passieren. Es wird immer Unverständnis, Konflikte und Ungerechtigkeit geben, da sie im Menschen selbst angelegt sind. Man kann versuchen, sie zu minimieren, aber eine utopische Gesellschaft wird es niemals geben.

Dennoch gibt John dem Leser viele Denkanstöße, um den Untergang unserer heutigen Gesellschaft und unseres technischen Standards vielleicht noch zu verhindern - das vordergründige Anliegen des Autors, von dem man sich nur wünschen kann, dass es sich erfüllt.

Linda Braner
15.06.2015

 
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Das Buch:

Eckart John: Überleben, über Leben, überleben

Frankfurt: August von Goethe Verlag 2015
166 S., 13,80 €.
ISBN: 978-3837216417

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