Romane

Patriarch ohne Patriarchat

Henry James (1843-1916) war, wie kein anderer seiner Generation, ein meisterlicher Gestalter von Frauenfiguren. In wie vielem die Frauenfiguren James ähnlich waren, das hat Literaturdeuter und ernsthafte Literaturwissenschaftler wie -historiker des späten 20. Jahrhundert immer wieder beschäftigt. Auch Colm Tóibín. Tóibín liebt James. Mehr noch als der sich lieben konnte. Tóibín kennt seinen James. Besser noch als der sich kennen wollte, der "seinen schützenden Panzer nicht endgültig abgelegt hatte". So Tóibín wörtlich im elften und letzten Kapitel seines Romans "Porträt des Meisters in mittleren Jahren". Ein Roman, der sich liest wie ein Roman von Henry James. Von der ersten bis zur letzten Seite ist die Sprache des amerikanisch-englischen Schriftstellers zu vernehmen. Es war kaum mehr nötig, doch ehrlich genug, daß Tóibín auf der letzten Seite des Buches bekennt, seinen "Text mit Redewendungen und Sätzen aus dem Werk von Henry James und seiner Familie angereichert" zu haben. Diese Anreicherung macht den Roman reich, der vom Scheitel bis zur Sohle wie ein echter James aussieht. Von einer Fälschung, gar vom Schmücken mit falschen Federn sprechen? Das hieße, dem Autor die Authenzität seines Romans abzusprechen. "Porträt des Meisters in mittleren Jahren" ist ein echter Tóibín-Roman, der in vielem besser ist als mancher Roman von Henry James.

Die Verehrung für James, die historische Distanz rechtfertigten nicht nur mehr Deutlichkeit. Sie verlangen sie. Dem Verlangen nach mehr Deutlichkeit nachzugeben, die in nichts den Respekt für den Verehrten mindert, brachte dazu, James in Momenten, Situationen, Begegnungen zu zeigen, die sein "Thomas-Mann-Blick" auslöst. Was immer über die Freund-Freundschafts-Beziehungen des Meisters gesagt wird, gehört zum Stärksten des Buches. Die Homoerotik war eine Stärke des Henry James, die ihn jedoch nicht so stark machte, seinen Panzer abzulegen. Nicht mal, als der junge Mann genötigt ist, mit einem Freund der Familie, nackt in einem Bett zu liegen. Der Respekt, den Tóibín aufrecht erhalten will, verhindert, daß der Panzer demontiert wurde. Demontage hätte bedeutet, mehr Entblößung zu riskieren, als gerechtfertigt ist. Tóibín hatte keinen Sensations-Roman im Sinne, sondern einen Respekt-Roman in Stil und Sprache des Meisters.

Einen Mann in "mittleren Jahren" - welche auch immer das sind - zu porträtieren, bedeutet für den Autor nicht, sich einzuschränken. Er schaut weit über die fünf Jahre hinaus (Januar 1895 bis Oktober 1899), die der Zeitrahmen des Romans sind. "Porträt des Meisters in mittleren Jahren" ist auch ein Familienroman, der vom verbindlichen, verbindenden Familiensinn des James erzählt. Fest verbunden mit seiner Familie, war der Junggeselle James, war der Amerikaner in England, kein Entwurzelter und Heimatloser. Als Teil einer Sippe, war er sich zugleich selbst Familie genug. Er war ein beispielhaft organisierter bürgerlicher  Bürger. Er war patriarchalisch ohne Patriarchat. Er war ein Bekannter, der es vorzog, ein Unbekannter zu bleiben. Ein Meister, der nur soviel Bewegung zuließ, daß er hinter keiner Maske schwitzte. Wie das zu machen ist, hat Henry James in seinem Romanen beschrieben und Colm Tóibín in seinen Roman über Henry James.

Bernd Heimberger
20.10.2005

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

CMS_IMGTITLE[1]

München: Carl Hanser Verlag 2005
228 S., € 24,90
ISBN: 3-4462-0664-7

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.