Romane

Für Fania

Ein Mann beendet sein Schweigen. Das dauerte ein halbes Jahrhundert. Geschwiegen hat der Mann über seine Mutter, die den Tag ihres Todes selbst entschieden hatte. Als die Mutter starb war der Mann Zwölfeinhalb. Heute ist der 65 Jahre. Vom Alter her, sagt er, könnte er jetzt der Vater seiner Mutter sein. Also der Überlegene, der die Annäherung an die ferne, fremde Frau wagen konnte, die seine Mutter war. Die Annäherung hat ein literarisches Epos ermöglicht, wie es in der heutigen Welt selten ist. Geschrieben hat es der weltbekannte israelische Schriftsteller Amos Oz. Er nennt seine jüdische Familiensage „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“. Das ist vor allem die Chronik zweier jüdischer Familien, die als entwurzelte Europäer in das Land kamen, dem die UNO am 29. November 1947 das Staatsrecht zubilligten. Liebe und Finsternis sind die beiden Pole zwischen denen sich jede Biographie vollzieht – von der Geburt bis zum Tode.

Mit „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ hat Amos Oz seiner Mutter eine zweite Chance gegeben zu leben. So lebhaft zu leben, wie sie ihr Leben nie hat leben können. Der Autor gibt sich die Chance, eine Begegnung mit der Mutter zu haben, wie sie so nie sein konnte. Ohne eine solche Erklärung abzugeben, ist das Buch des Schriftstellers Fania, der Mutter, gewidmet. So wichtig dem Verfasser die Mutter-Sohn-Beziehung ist, wesentlicher noch ist für das Buch das Panorama der Familie. Jeder hat in dem Panorama seinen prononcierten Platz. Keineswegs repräsentativ, ist die vielköpfige Familie ein prägender Teil des jüdischen Volkes. Alle privaten Geschichten sind Teil der jüdischen Geschichte.

Nicht ohne innerlich bewegt zu sein, sind die Szenen und Kapitel zu lesen, die schildern, mit welcher Begeisterung auf den UNO-Beschluß vom November 1947 reagiert wurde, wie entschlossen, der noch gar gegründete jüdische Staat verteidigt wurde. Soviel Oz auch vom Sterben zu erzählen, immer erzählt er auch vom Überleben. „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ ist eine grandiose Überlebensgeschichte des Einzelnen wie der jüdischen Gemeinschaft.

Amos Oz spricht pausenlos. Still wird ihm zugehört. Bis die Sprache des Schreibers den Zuhörern die Sprache verschlägt. In den kräftigen Sog der über 750 Seiten hineingezogen, werden sich die Leser sowohl begeistert wie beschämt fühlen. Oz ist ein Schriftsteller, der um keine Vokabel verlegen ist, will er sich verständlich machen. Verständlich zu sein bedeutet dem Verfasser zu unterhalten. Amos Oz ist ein leidenschaftlicher Unterhalter, der sich selbst ungern Grenzen setzt. „Immer öfter wiederholte er’s sich. Trotz seines scharfen Erinnerungsvermögen“, sagt Oz über seinen 60jährigen Vater, als er, kurz zuvor, seinen Lesern zum wiederholten Male die Herkunft des Wortes „Magazin“ erklärte. Nützlich wäre es gewesen, Nily, Oz´s Frau und erste Leserin, hätte häufiger strikt gesagt: „Genug. Das kennen wir. Das hast du schon einmal geschrieben.“

Der Schriftsteller begann mit der Niederschrift von „Eine Geschichte der Liebe und Finsternis“ als er bereits über das Alter hinaus war, das sein Vater erreichte. Vielleicht ist auch das Erinnerungsvermögen von Amos Oz nicht mehr .... Aber ach, Schriftsteller dürfen sich wiederholen. Noch und noch! Hauptsache die Wiederholungen sind gut. Die Wiederholungen des Amos Oz sind besser als sein Schweigen das sein könnte. Hätte der Schriftsteller sein Schweigen nicht aufgegeben, die Welt wäre um eine wundervolle Mutter-Vater-Sohn – Kindheits-Geschichte ärmer. Die will wiedergelesen werden. Sobald die Ruhe wieder ist für ein solches Welt- und Welten-Panorama wie „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“.

Bernd Heimberger
07.09.2005

 
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Das Buch:

Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

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Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004
765 S., € 26,80
ISBN: 3-5184-1616-2

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