Romane

Vom Paulus zum Saulus

Frederik Kallenberg ist spurlos verschwunden. Niemand weiß, wohin es das aufstrebende Mitglied des Bundestags verschlagen hat. Kallenberg sitzt für die CDU in Berlin und hat sich dort als erzkonservativer Familienpolitiker innerhalb kürzester Zeit hohes Ansehen verschafft. Dabei hatte sein Leben einst im Sauerland noch wenig hoffnungsfroh begonnen: Kallenberg durchlebte eine schwierige Kindheit. Der beste Freund seines Vater war der Alkohol, während seine Mutter zahlreiche Affären mit anderen Männern hatte, doch sich letztlich nie traute, den konsequenten Schritt der Trennung vom Ehemann zu wagen. Davon geprägt entwickelte Kallenberg seine Wertewelt, die auf der Institution Familie und einer klassischen Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau fußt. Er engagierte sich schon in frühen Jahren bei der Jungen Union und vertrat selbst seine konservativen Werte konsequent, indem er seine Jugendliebe Julia heiratete und mit ihr zwei Kinder bekam.

Frederik Kallenberg erscheint als der Prototyp eines erfolgreichen Spießers mit einer Vorzeigefamilie und einer steil nach oben führenden Karriere als Berufspolitiker, die ihn bis in den Bundestag führte. In Sachen Familienpolitik machte sich Kallenberg einen Namen und wurde darüber hinaus zu einem gern gesehenen Gast in Fernseh-Talkshows oder Podiumsdiskussionen. Bei einer solchen begegnet er schließlich Liane, die familienpolitisch gesehen den kompletten Gegenentwurf von Kallenberg darstellt. Doch Gegensätze ziehen sich bekanntlich an und in diesem Fall letztendlich auch aus. Entgegen seiner eigenen proklamierten Werte stürzt sich Frederik in eine Affäre mit Liane. Hin- und hergerissen zwischen eigener Familie, der schützenswertesten Institution, und dem Rausch der Sinne angefacht durch das Neue und Unkalkulierbare zieht Frederik Kallenberg die Reißleine und verschwindet eines Tages plötzlich von der Bühne.

Markus Feldenkirchen hat mit "Keine Experimente", was übrigens der erfolgreiche Wahlslogan Adenauers bei der Bundestagswahl 1957 war, seinen zweiten Roman im Zürcher Kein & Aber Verlag vorgelegt. Nach dem Überraschungserfolg seines Debütromans "Was zusammengehört" erzählt Feldenkirchen erneut eine begeisternde Geschichte. Feldenkirchen selbst ist seit vielen Jahren als Journalist im politischen Umfeld Berlins tätig und weiß daher genau, wovon er berichtet. Sein persönliches Experiment, einen Roman auf bundespolitischer Ebene anzusiedeln, darf als vollends gelungen bezeichnet werden.

"Keine Experimente" besticht durch eine gelungene Darstellung der inneren Zerrissenheit seiner Hauptfigur, die den Leser hochgradig bewegt. Trotz seiner erzkonservativen Ansichten und seiner eigenen Untreue schildert Feldenkirchen mit Kallenberg einen Sympathieträger, dem man als Leser nur allzu gerne unter die Arme greifen möchte - obgleich man wegen dessen Verzweiflung selbst hin- und hergerissen ist und weder ein noch aus weiß. Man schätzt dabei vor allem die Ehrlichkeit eines Politikers in Zeiten von Wendehälsen und aalglatten Opportunisten und leidet darunter, dass gerade ein solcher seine ehrenwerte Linie verliert.

Der vorliegende Roman ist definitiv keine Werbung für das Sauerland, die Heimat Frederik Kallenbergs. Im fiktiven Örtchen Waldhagen, das Feldenkirchen in der Nähe der Kleinstadt Attendorn im Kreis Olpe angesiedelt hat, mag man nach der Lektüre von "Keine Experimente" nicht einmal tot über dem Zaun hängen. Der Mief von Schützenfesten sowie antiquierte Zwänge und Blickwinkel bestimmen die Atmosphäre von Kallenbergs Kindheit und Jugendjahren und schnüren das Korsett, in dem sich Kallenberg auch in späteren Jahren kaum zu bewegen vermag.

Ein Highlight in "Keine Experimente" bilden die Begegnungen Kallenbergs mit der Bundeskanzlerin, so dass man spätestens bei deren Angebot zu einem Eierlikörchen in Applaus verfällt. Erzähltechnisch wechselt der Autor kapitelweise zwischen der gegenwärtigen Suche nach dem verschwundenen Politiker und der Schilderung seiner Vita hin und her. Die beiden Stränge nähern sich im Verlauf des Buchs einander an und verschmelzen schließlich. Nach "Keine Experimente" und "Was zusammengehört" darf es gerne noch mehr von Markus Feldenkirchen sein, der bis dato, um eine Metapher zu missbrauchen, die dem Sauerland und seinen Schützenfesten alle Ehre machen würde, zwei Schüsse abgefeuert und zugleich zwei Treffer gelandet hat, so dass man sein nächstes Buch sicherlich ungesehen in den Einkaufskorb legen wird.

Christoph Mahnel
12.08.2013

 
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Das Buch:

Markus Feldenkirchen: Keine Experimente

Zürich: Kein & Aber Verlag 2013
400 S., € 22,90
ISBN: 978-3-036-95671-8

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