Romane
Geschichte um eine widersprüchliche Frau
Ein ruhiges Leben mit Mann und Kindern in der tiefsten Provinz Frankreichs und auf einmal das: Die Jugendliebe steht unvermittelt vor Ihnen. Darf man Kinder und Ehemann verlassen, auch wenn die Heirat nur geschah, weil der Bauch dicker wurde? Darf man sein Dorf verlassen, auch wenn dieses Nest einen erstickt? Catherine Texiers neuer Roman wirft existentielle und moralische Fragen auf.
Hauptfigur Victorine denkt zwar viel nach, handelt aber im Endeffekt nach Gefühl und so folgt sie kurzerhand ihrem Geliebten nach Kochinchina, dem ehemaligen Vietnam der französischen Kolonien. Kann man aber im zweiten Leben glücklich werden, wenn man sich vor dem ersten versteckt?
Victorine ist keine Heldin die immer weiß, was zu tun ist und es auch durchzieht. Sie ist mal wild entschlossen, mal unsicher, mal stark, mal schwach, eben nur ein Mensch, der uns deswegen sympathisch ist, auch wenn man anders handeln würde.
Was leicht zu einer klischeehaften und kitschigen Geschichte zu werden drohte, ist sensibel und glaubhaft genug vermittelt, um diese Klippe zu umschiffen. Dies liegt vor allem an der Sprache, die auch in den größten Konflikten und Emotionen schlicht bleibt und dadurch ergreifend wirkt. Auch ist die plastische Darstellung des Lebens in der Vendée (eine arme Region an der Atlantikküste, südlich der Bretagne), sowie im kolonialen Vietnam, sehr gelungen. Lebensart, Bräuche, Küche, Kleidung, aber auch Gerüche, Farben, Materien sind detailreich und sehr sinnlich geschildert. Vor allem die Darstellung eines opulenten sommerlichen Familienessens in der Vendée ist so gelungen, dass sie wie auf einem Bildschirm gebannt erscheint. Ein Zeremonial in geschlossenen Räumen, bei dem Sinnlichkeit großgeschrieben wird. Zahlreiche Wörter aus dem "patois vendéen", dem Dialekt der Vendée, sowie typische Gegenstände der Region verstärken diese lebendige Darstellung.
Die Kehrseite der Medaille wird aber auch nicht ausgespart: Engstirnigkeit einer erzkatholischen Gegend, die einzige Frankreichs die gegen die Revolution war (und für den gottgesandten König) auf der einen Seite, Korruption und Dekadenz in den ehemaligen Kolonien der Jahrhundertwende auf der anderen.
Diese Feinheiten sind es, die diesen Roman lesenswert machen, im Unterschied zu übertrieben exotischen Liebesromanen. Auch das Thema ist absolut glaubwürdig: Die Großmutter der Rezensentin lebte auch mit Mann und Kindern in einem Dorf der Vendée, bevor sie sich nach Vietnam einschiffte. Diese Situation hat es also tatsächlich gegeben, was die Erzählung sehr interessant macht, sowie der Fakt, dass die Großmutter der Autorin tatsächlich für achtzehn Monaten ihre Familie verlassen hatte um (mit einem Mann?) nach Vietnam zu gehen. Die Tatsache, dass der Roman wie ein Tagebuch geführt wird, in welchem Eintragungen aus der Jugend (im kolonialen Vietnam) und aus dem Alter der Hauptfigur (im besetzten Frankreich des zweiten Weltkrieges) sich abwechseln, situiert das private Schicksal in seinem historischen Kontext.
Ein gelungenes Buch um eine widersprüchliche Frau in einer bewegten Epoche.
Valérie Bignon
01.04.2005