Romane

Auslassung als poetisches Prinzip

"Die Geschichte hat mit einem Blick begonnen; der alte Mann unten auf der Brücke, der sich umdrehte, direkt zu Daniel am Fenster hochsah und ihn als jemand erkannte, der er nicht war." In schönster Schauermanier wird der Leser in ein mysteriöses Geschehen verwickelt, in dem ein verwirrter Mathematikstudent, ein alter Mann in zerschlissener Marineuniform sowie eine ständig absente Geliebte die Hauptrollen spielen, ein Geschehen, das jedoch bald abrupt unterbrochen wird von der Reflexion der Erzählerstimme: "Wir dachten uns, das wäre ein guter Anfang."

"Fremd Gehen" ist ein Amalgam aus Theorie und Praxis des Schreibens, es zeigt das Ineinanderübergehen (= Fremd Gehen) des Einen in das Andere – die Sessions, in denen ein befreundetes Dichterpaar sich trifft und wild über die Konzeption ihres Kriminalromans diskutiert, gleiten direkt in Passagen des Romans selbst über, so dass man am Ende nicht mehr genau weiß, wer eigentlich wen auf dem Reißbrett der dichterischen Fantasie entworfen hat. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Spiegelung im Anderen (sei es die oder der Geliebte oder eine Romanfigur) wie der Blick des Narziss' ins spiegelglatte Wasser ist und wir über die Grenzen unserer (Innen)Welt auch nicht durch die so oft beschworene Liebe vermöchten – weil wir nicht können, weil wir nicht wollen? Das Eingeständnis der Schwäche im Hingegebensein an den Geliebten wird vom Erzähler und seinem Roman-alter-ego Daniel Stillmann jedenfalls ungleich schwerer ertragen.

Am eindringlichsten veranschaulicht Strubel die Befangenheit im Ich und seinen Projektionen an der Figur des alten Mannes, dessen Erinnerung an die Zeit als Marinesoldat, die gleichzeitig eine heillose Verstrickung in die Vergangenheit ist, hoch poetische Bilder gebiert: "Früher hatte er die Zeitschriften gelesen. Inzwischen machte es ihm mehr Spaß, sie so zu halten, daß sein Gesicht abwechselnd auf dem geschwungenen Bug einer Jolle auftauchte, die von Hamburg aus ins Meer stach, oder auf dem Rücksitz eines palästinensischen Fischerbootes. Seine Lippen konnten sich auf das Teakdeck einer Jacht legen, und wenn er die Zähne bleckt, sah es aus wie ein unwahrscheinlich großer Fisch, in dessen Maul das Teakdeck verschwand."

Er, der zu Beginn im Laternenschein auftaucht und zu Daniel Stillmann/ dem Erzähler hochstarrt, ist einer jener "Kreise, die die Dunkelheit ausschließen" und denen man sich beim Schreiben anzunähern versucht, in der Gewissheit: "dahinter beginnt die Dunkelheit neu". Der wohl ursprünglichen Intention der Spannungsinduktion (so Strubel im Vorlesungsverzeichnis des Deutschen Literaturinstituts) anfangs durchaus gerechtwerdend, verleiht das Prinzip der Auslassung schließlich dem Text seinen Sinn – wo sich um alle Figuren herum Leerstellen auftun, die mehr schlecht als recht durch Andeutungen und Vermutungen gefüllt werden, ist es nur konsequent, dass sich am Ende eigentlich alles gleich ist: "Nichts wird je anbrechen, nichts macht uns jünger oder älter, wir werden nie erfahren, wie wir sein werden, weil wir immer nur sind, aufgehoben in den Stimmungen der Tage."

Jedoch ist dieser metaphysische Impetus, der sich dem Leser allerortens aufdrängt, etwas anstrengend, vor allem, weil man den Eindruck nicht los wird, er soll die Leerstellen ersatzweise auffüllen, während andere Passagen von suggestiver Kraft beseelt sind und ohne jegliche Kopflastigkeit auskommen: "Ich kenne jedes Detail von ihr. Wenn wir uns zum Abschied umarmt haben, war ihr Körper viel deutlicher, als sie ihn mir nackt hätte zeigen können." In Sätzen wie diesen zeigt sich die wirkliche Qualität des Textes, mithin das Talent einer sehr begabten Autorin.

Nicole Stöcker
15.02.2005

 
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Das Buch:

Antje Rávic Strubel: Fremd Gehen

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München: dtv 2004
175 S., € 9,00
ISBN:3-423-13272-8

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