Romane

Verlorene Heimat

Es gibt Ereignisse im Leben eines Menschen, welche sein ganzes Dasein unverkennbar prägen, welche in sein Schicksal eingreifen und es gewaltsam in eine andere Richtung lenken. In den Werken von Renate Dalaun sind es politische Geschehnisse, die einen Menschen dazu zwingen, sein Leben umzupolen, seine Werte und Ziele zu überdenken und das für ihn bis jetzt Selbstverständliche zu hinterfragen. Die Vertreibung der Sudetendeutschen im Roman "Die Einsamkeit der Grenzlandwanderer" und die Emigration aus der DDR nach Westdeutschland in der Erzählung "Im fliegenden Galoppwechsel" bilden den historischen Hintergrund, vor dem das jeweilige individuelle Schicksal dargestellt wird. Welche Spuren hinterlassen solche tiefgreifenden existentiellen Veränderungen im Inneren eines Menschen? Wenn das Vertraute in eine weite Ferne rückt und selbst die Geborgenheit des Heimatlichen verloren geht? Wie beeinflussen sie seine Weltwahrnehmung und sein Verhältnis zu anderen Menschen? Ist es möglich, jenes beruhigende Gefühl einer heilen Wirklichkeit, welches einen vor den fatalen Umwälzungen umgab und Geborgenheit spendete, wenigstens noch einmal zu erleben? Diesen Fragen geht Renate Dalaun nach und schildert in erschütternden und eindringlichen Bildern die Begegnung des Einzelnen mit dem unaufhaltsamen und unbeugsamen Lauf der Geschichte.

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich und mit der Psyche des anderen steht im Mittelpunkt beider Werke. Im Roman ist es Alice, die sich selbst, aber noch stärker ihren Freund Donald Adam forschend betrachtet und die verborgenen Mechanismen seines Verhaltens aufzudecken sucht. Die weit zurückliegende Flucht aus Tschechien schlägt sich bei Adam sowohl im physischen als auch im seelischen Leid nieder und hindert ihn, mit Vertrauen und Zuversicht durchs Leben zu gehen. Wie seine Ängstlichkeit und Verletzlichkeit eine hohe Mauer zwischen ihm und denen, die ihn lieben und ihm helfen wollen, errichten, führt der Roman in jeder neuen Episode auf anschaulichste vor. Alices einfühlsamen und psychologisch detaillieriten Aufzeichnungen lassen die ganze Tragik der Situation, in der sich die beiden befinden, deutlich erkennen und nachempfinden.

Auch in der Erzählung "Im fliegenden Galoppwechsel" wird die Protagonistin von ihrer Vergangenheit – der in der DDR verlebten Kindheit – ständig eingeholt. Immer wieder kehrt sie in Gedanken zu jenen Tagen zurück, als sie nach klar vorgegebenen Werten und Prinzipien des sozialistischen Staates lebte, in dieser geordneten Welt ihren Platz hatte und sich glücklich fühlte. Jetzt muß sie sich in einem anderen System zurechtfinden, und das Werk zeigt die ganze Problematik dieses komplexen und schmerzhaften Prozesses.

Aus der dramatischen Spannung zwischen dem Intimen des privaten Bereichs und dem Anonym-überwältigenden eines kollektiven Geschehens schöpfen beide Werke ihre subtile erzählerische Wirkung.

avv
01.10.2003

 
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Das Buch:

Renate Dalaun: Die Einsamkeit der Grenzlandwanderer

CMS_IMGTITLE[1]

Frankfurt/M.: Fouqué Literaturverlag 2003
294 S.
ISBN: 3-8267-5341-0

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