Romane

Im Leben wachsen

Der eher spröde Titel "Zuckerrüben und Kohlengruben", der vielleicht an die Topographie einer Landschaft denken lässt, steht in auffallendem Kontrast zur Genrebezeichnung als Untertitel. Überall scheinen die Tagebuchaufzeichnungen als Grundlage des vorliegenden Textes durch, der sich jedoch keineswegs in fragilen Impressionen erschöpft, sondern eine handfest erzählte Geschichte bietet.

Ein junges Mädchen aus der Schweiz – es ist die Zwischenkriegszeit – reist in den Norden Frankreichs, wo sie als Aupair für ein Jahr in einer Familie mit drei, bald vier Kindern leben wird. Zum ersten Mal für längere Zeit von ihrer eigenen Familie getrennt, allein in einem fremden Land, unabweisbar sich bewähren müssend, fühlt sie sich zunächst von aller Welt verlassen und elend. Die Autorin verweilt nicht lange bei den Seelennöten Ursinas; sie stellt die Personage des Hauses vor und darüber hinaus dieses Ortes in dem kargen Landstrich nahe der Grenze zu Belgien. Unter der Hand entsteht so das berührende Bild eines Gemeinwesens: eintönig, trüb und schwer atmend – mit Menschen, oft unglücklich, manchmal am Abgrund lebend. Keine helle Welt. In der Ferne ragen die Schlackenpyramiden der Kohlengruben auf, etwas näher, am Kanal steht die Zementfabrik. Und es gibt ein Bistro, "in dem bis tief in die Nacht hinein getrunken und gegrölt, Kummer im Alkohol ersäuft und viel Elend geboren wird".

Die Autorin erzählt aus überschauender Perspektive. Kaleidoskopartig reihen sich Episoden aneinander: der häusliche Alltag, der Umgang mit den Kindern der Familie, Ungemach mit den Haushalthilfen, woher holt man die Milch, der Kauf von Muscheln, die nach Meer duften, einmal in der Woche von einem Planwagen, kleinere und größere Katastrophen wie der Defekt der elektrischen Wasserpumpe fürs Haus oder die Malerarbeiten im "Salon", Krankheiten, Besuche von Freunden aus der Stadt, Klatsch und Tratsch im Ort, Abendandachten, wie Weihnachten gefeiert wird – kurz, das volle Leben.

Deutlich zu machen, wie in dieses kleine, alltägliche Leben das große hineingreift, gelingt Susanne Spöndlin ebenso authentisch. Die Zeit ist geprägt von wirtschaftlicher Krise, sozialen Unruhen, Kriegsschatten lasten bereits über allem. Die Glasfabrik, deren Leiter Monsieur Dorant, der Familienvater, war, ist schon lange stillgelegt. Arbeitslosigkeit geht um. Es gibt Streiks. In den Kohlebergwerken haben die Arbeiter die Gruben besetzt und Ingenieure als Geiseln genommen – aber auf französische Art und Weise und nicht so schwer zu nehmen. Unaufwendig entsteht so auch ein Bild vom Denken und Fühlen der Menschen; sie "hoffen, und geschützt hinter dieser Hoffnung leben sie ihren kleinen Alltag weiter, mit seinen Plagen und seinen Freunden".

Für Ursina, deren Lebensproblem die ständige Angst war, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein, nicht zu genügen, wird das Jahr in der Familie Dorant und im Miteinander des Ortes zu einem Reifeprozeß – lebenspraktisch, erkenntnismäßig, emotional. Die Liebkosung dünner, um ihren Hals gelegter Ärmchen eines kleinen Mädchens, das sie trägt, weil es nicht mehr laufen kann, wird sie nie vergessen, ebenso wenig wie das warme, nie gekannte Gefühl, das ein Fremder bei einem Ball, einem der seltenen Vergnügungen des Ortes, in ihrem Herzen zurückgelassen hat. Das Erwachen weiblichen Empfindens, die Erfahrung menschlicher Nähe. Sie geht am Ende mit Trauer in ihr Elternhaus zurück.

Und für den Leser am Ende erhält der erdhafte Titel des Buches plötzlich ganz überraschende Symbolkraft: auf menschliche Produktivität weisend. Die Lektüre des Buches vermittelt den Eindruck, dass die Autorin noch genügend an Erfahrungen und lebendigen Erinnerungen ihres Lebens bereithält, das zum Erzählen drängt. Eine kritische Anmerkung zum Schluß: Der gute Leseeindruck wird etwas gemindert durch den unmotivierten Tempuswechsel im Text; ein aufmerksames Lektorat hätte hier leicht bessern können.

hvö
15.05.2002

 
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Das Buch:

Susanne Spöndlin: Zuckerrüben und Kohlengruben

CMS_IMGTITLE[1]

Frankfurt/M.: Cornelia Goethe Akademieverlag 2001
121 S.
ISBN: 3-8267-5011-X

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