Romane

Liebesgrüße aus "Asbest 2"

Die 14-jährige Alexandra Goldberg, kurz Sascha, kann mit Fug und Recht eins behaupten: Mit außerordentlichem Glück ist sie definitiv nicht gesegnet. Sie muss ein Dasein in der verfallenen sibirischen Siedlung mit dem klangvollen Namen "Asbest 2" fristen und hat zudem ihren Eltern zwei Eigenschaften zu verdanken, die man dort keinesfalls gerne sieht: Sie hat dunkle Haut und krause Locken und sie entstammt einer jüdischen Familie. Zudem macht sie durch ihr wenig attraktives Erscheinungsbild und ihre eher tumbe Art von sich reden.

Zu ihrem Glück ist ihre Familie für die in "Asbest 2" herrschenden Verhältnisse recht wohlhabend, doch mit den Plänen, die ihre drakonische Mutter für sie hat, kann Sascha wenig anfangen. Mit der grundsätzlichen Idee hinter ihrem Vorhaben kann sie sich zugestandenermaßen durchaus anfreunden, denn "etwas Besseres" zu werden, würde ihr bestimmt gefallen. Allerdings verlangt es ihr keinesfalls danach, dies zu bewerkstelligen, indem sie Künstlerin wird, wie es die Mutter ihr partout aufzwingen will. Saschas Erfolg in einer maroden Kunstschule in "Asbest 2" fällt dementsprechend gering aus.

Viel lieber als zu malen, schmökert Sascha oder vergnügt sich mit den Dingen, die Teenager eben interessieren - wie das erste Glas Alkohol, der erste Joint, die erste Liebe. Doch indem ihre Mutter ihre Beziehungen spielen lässt, wird Sascha ein Kunststudium auf dem Repin-Lyzeum in Moskau aufgedrängt. Und das, obwohl ihre Teenagerromanze mit Alexei, dem Bruder ihrer einzigen Freundin, bereits ein "Produkt" hervorgebracht hat, das bei Saschas Mutter bleiben soll. Zähneknirschend tritt Sascha die Reise nach Moskau an, doch sie hält es dort nicht lange aus. Schließlich stößt sie auf eine Agentur, die Katalogfrauen nach Amerika verschickt und meldet sich dort an ...

Ein Leben im trist-maroden, kommunistischen Sibirien ist wahrlich kein Zuckerschlecken, doch der Leser bemerkt schnell, dass es in "Petropolis" wahrlich nicht immer bierernst, sondern respektlos, ironisch und komisch zugeht. Bereits nach den ersten Seiten stellt sich so die Frage: Darf man über die Unmenschlichkeit des Kommunismus oder die Diskriminierung eines jungen Mädchens aufgrund seiner Randgruppenzugehörigkeit tatsächlich lachen? Die Antwort der ursprünglich aus Moskau stammenden Autorin Anya Ulinich auf diese Frage ist deutlich zu verstehen: selbstverständlich, und wie! Die vom Leben gebeutelte Sascha erweist sich in jeder Hinsicht als Pechvogel und erträgt ihr Los doch stets mit einer Mischung aus Stoizismus und frechem Trotz, die den Leser regelrecht dazu einlädt, gleichsam über sie wie mit ihr zu lachen. Dennoch verkommt Sascha niemals zur einseitigen Clownfigur.

Spätestens ab ihrem hinreißend spritzig beschriebenen Techtelmechtel mit dem leicht einfältigen Alexei wird deutlich, dass auch Gefühle in "Petropolis" eine wichtige Rolle spielen. Anya Ulinich versteht es so gekonnt, der tragikomischen Geschichte um Saschas Suche nach einem Platz im Leben mehr Tiefe zu verleihen, als viele Leser von einem satirisch geprägten Roman erwarten werden. Zudem ist die bemerkenswerte atmosphärische Dichte von "Petropolis" hervorzuheben. Ulinichs Beschreibungen des menschenfeindlichen "Asbest 2" könnten lebendiger und eindringlicher nicht sein, so dass sich jeder Bücherfreund noch lange Zeit an sie erinnern wird.

Auffällig ist, dass der scharfkantig-sarkastische Biss des Romans kurz nach Saschas Ankunft im Land von Uncle Sam insgesamt an Schärfe verliert. Die zweite Hälfte von "Petropolis" erhält so einen deutlich anderen Ton, der von einem subtileren Umgang mit Häme und Spott geprägt ist. Obwohl Ulinich keinen Hehl daraus macht, dass auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten keinesfalls alles Gold ist, was glänzt, wird so verdeutlicht, dass sich Saschas Wunsch nach einem besseren Leben wohl endlich erfüllt hat. All dies macht "Petropolis" zu einem Muss für alle Bücherfreunde auf der Suche nach einem Leseerlebnis abseits des täglichen Allerleis. Ein absolut gelungener Beweis, dass sich Satire und Gefühl nicht ausschließen müssen, der auch anspruchsvolle Leser begeistern wird.

Johannes Schaack
30.05.2011

 
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Das Buch:

Anya Ulinich: Petropolis. Die große Reise der Mailorderbraut Sascha Goldberg. Aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann

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München: dtv 2011
419 S., € 9,90
ISBN: 978-3-423-13984-7

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