Romane
Die Frau – ein unergründliches Wesen?
Die fünfundzwanzigjährige Marie erhält die Nachricht vom Tod ihres Großvaters, der zeit seines Lebens ein recht eigenwilliges und exotisches Dasein geführt hat. Gestorben ist er in Venezuela, wo er eingeäschert wurde. Seine sterblichen Überreste soll Marie am Münchner Flughafen in Empfang nehmen. Angeblich habe ihr Großvater die Sprache aller Kneipen und der meisten Frauen gesprochen, zudem soll er einst in einem Pariser Hotel Catherine Deneuve geküsst haben. Kurzum, ihr Großvater scheint ein grotesker Paradiesvogel gewesen zu sein, will man den Ausführungen der Frauen in Maries Familie Glauben schenken.
Katharina Eyssen, Jahrgang 1983, hat mit "Alles Verbrecher" ihren Debütroman vorgelegt. Familiär ist sie durch ihre Eltern vorbelastet, so dass ihr eigener Weg über die Münchner Filmhochschule hin zum Schreiben für sie selbst wenig überraschend sein mag, sondern vielmehr vorgezeichnet war. Ihre filmische Vorprägung erklärt auch den szenischen Aufbau des vorliegenden Buches: Eyssen arbeitet stark mit der Klappe eines Filmregisseurs, die abrupt eine Filmszene enden lässt und einen Einschub aus einer anderen Zeit an einem anderen Ort erlaubt.
Marie erhält durch den Tod ihres Großvaters einen Antrieb, ihr eigenes Leben zu hinterfragen und insbesondere zu verstehen, warum sich in der familiären Vergangenheit die Dinge letztlich so ereignet haben, wie sie es getan haben. Das Verstehen der eigenen Familie hängt sich in Maries Fall stark an ihren weiblichen Vorfahren auf. Ihre depressive Mutter ist gewiss Maries härteste Nuss, die es zu knacken respektive zu verstehen gilt. Doch wer und wie war ihre Großmutter, die Frau des gerade verstorbenen Großvaters? Welche Rolle spielte dessen Schwiegermutter, Maries Urgroßmutter Alma? Marie begibt sich auf eine Reise nach New York, um dort Antworten zu finden.
Katharina Eyssen überrascht den Leser mit einer gehörigen Portion Inspiriertheit und Fantasie, mit der sie ihre Protagonistin Marie versehen hat. Deren Gedankenspiele entführen den Leser oftmals rasch vom eigentlichen Geschehen, enden aber meist auch genauso plötzlich. Vor allem der männliche Leser wird einige Aha-Effekte durchleben, wenn er versucht, Abfolge und Richtung der Gedanken von Marie oder auch ihrer Mutter nachzuvollziehen. In Maries Familie hatten die Frauen nämlich kein gutes Bild von ihren Männern und hielten letztere allesamt für Verbrecher, was wiederum den Titel des vorliegenden Buches erklärt. Doch Marie weigert sich, dieses Bild ungefragt zu übernehmen, schließlich sind ihre Erinnerungen an den Großvater nicht die schlechtesten gewesen.
Ohne dass der Leser im vorliegenden Buch einen Spannungsbogen durchläuft, wird er unmerklich in einen Sog hineingezogen, der ihn der fantasievollen Sprache der Autorin geschuldet durchaus begeistert und oftmals schmunzeln lässt. Insbesondere die Passagen in New York, als Marie eine viel versprechende Fährte des Großvaters aufnimmt, entbehren nicht einer gewissen Groteske. Katharina Eyssen steht nach diesem gelungenen Debüt unter Beobachtung, schließlich wird man gespannt auf ihre kommenden Werke schauen. Dennoch sei kritisch hinterfragt, ob 18 Euro für ein doch recht kurzes, wenn auch kurzweiliges Lesevergnügen gerechtfertigt sind, denn gut 200 Seiten in sehr leserlicher Schriftgröße und mit ausreichendem Zeilenabstand versehen sind schnell gelesen und würden sicherlich einer Paperback-Ausgabe zum halben Preis auch gut zu Gesicht stehen.
Christoph Mahnel
14.03.2011