Romane

Großer Mann , was nun?

Ein Unfall mit seinem Dienstwagen, den aus ungeklärten Gründen er selbst fuhr und nicht sein Chauffeur. Das ist alles, was Claus Urspring über die Umstände weiß, die dazu geführt haben, dass er sich nach einem zehntägigen Koma in einem Klinikbett wiederfindet. Doch auch hierüber wäre er nicht in Kenntnis, wenn sein Mitarbeiter März nicht wäre, der ihm nun nicht von der Seite weicht. Und genauso wenig wüsste er, dass er Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes ist. Seine Erinnerungen an seine letzten Lebensjahrzehnte scheinen wie ausgelöscht und nur an seine Kinder- und Jugendjahre kann sich Urspring noch genauer erinnern.

Es scheint, dass der ehemals starke und mächtige Mann nach seinem Koma die Welt nun mit den Augen eines Kindes sieht und auch mit den Denkmustern eines solchen begreift. Was ein Ministerpräsident den lieben langen Tag tut? Warum Männer Frauen haben müssen und warum Kinder unser Kapital sind? Warum man nicht jedem Bundesbürger ein Buch schenken und umsonst mit Bussen und Bahnen fahren lassen könne? Alle diese Fragen sind für ihn nun komplette Mysterien. Es zeichnet sich schnell ab, dass der dreimonatige Klinikaufenthalt für Ursprings Genesung bei weitem nicht ausreichen wird.

Allerdings könnte sich all dies zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt ereignet haben, denn die alles entscheidenden Wahlen stehen vor der Tür. Eigentlich müsste Urspring bereits mit vollen Kräften die Wahlkampftrommel rühren und auch die Medien erwarten von ihm schon lange eine Stellungnahme. Beides ist angesichts des desaströsen Zustands des geistig und körperlich geschwächten Ministerpräsidenten eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Doch März schickt sich an, mithilfe einer professionellen Redenschneiderin und Expertin für "political playback" und seiner Schar von Spezialisten das Unmögliche möglich zu machen.

Hand aufs Herz: Bücher mit einer ähnlich genial-orginellen Prämisse laden eingefleischte Vielleser oft zur Skepsis ein. Wird dem Autor tatsächlich eine ähnlich gute Ausführung gelingen, wie sie seine Buchidee verspricht? Bereits nach den ersten Seiten von "Der Ministerpräsident" wird sich allerdings jeder Leser, der am Können des deutschen Autors Joachim Zelter zweifelt, mit hochrotem Kopf ertappen. Das Fundament des Buches bildet zynische Politsatire pur und Zelters markante Staccatosätze würden aus der Feder anderer Autoren eventuell klinisch wirken. Doch mit "Der Ministerpräsident" gelingt es ihm, einem eigentlich beißenden Gemisch so viel Wärme und Emotionalität zu verleihen, wie es nur die wenigsten von einem Buch mit solch ausgeprägtem Satirecharakter erwarten würden.

Joachim Zelter unternimmt bewusst keinerlei Versuche, Ursprings Funktion als Vehikel für beißende Kritik an der Absurdität des Politapparats zu verbergen. Dennoch wird sich kaum ein Leser dagegen wehren können, mit dem sich wie ein sensibler Fünfjähriger gebärdenden, stets über die Techtelmechtel seiner Kindheit und seine Schulzeit sinnierenden Ministerpräsidenten mitzufühlen. Material zum Lachen und zum Kopfschütteln bietet der absurde Wahlkampf der kindlichen Politik-Ikone zwar reichlich, doch zur platten Clownfigur verkommt Urspring nie. Trotz - oder gerade wegen - der bittersüßen Qualität des Romans ist der Unterhaltungswert von "Der Ministerpräsident" zudem derart hoch, dass auch der politischen Satire eigentlich abgeneigte Leser problemlos zugreifen können. Ein fulminantes Buch mit dem Zeug zum Kult-Klassiker, das jedem Bücherfreund vor Augen führen wird, warum er gerne liest.

Johannes Schaack
08.11.2010

 
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Das Buch:

Joachim Zelter: Der Ministerpräsident

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Tübingen: Klöpfer & Meyer
188 S., € 18,90
ISBN: 978-3-940086-83-9

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