Romane
Die Gedanken sind frei
Der Schauplatz ist Sofia, Bulgarien. Als der Leser den Protagonisten mit dem für einen Bulgaren ungewöhnlichen Namen Ulrich kennenlernt, scheint er sein Leben bereits hinter sich zu haben. Erblindet und in Armut und Einsamkeit vegetiert er dahin und ist so auf die Unterstützung seiner Nachbarn angewiesen, um überhaupt am Leben zu bleiben. Dabei hat sein Leben doch so vielversprechend begonnen. Seine erste große Liebe in jungen Jahren ist die Musik, doch seine Pläne, ein berühmter Violinist zu werden, scheitern schnell an seinem dominanten Vater. Als nächstes wendet er sich mit Leib und Seele der Chemie zu, was länger währen darf und ihn in den Zwanzigerjahren nach Berlin führt. Hier erwartet Ulrich eine aufregende Atmosphäre voller Freigeist, wie er sie noch nie in seinem Leben erfahren hat. Doch Ulrich muss sein Chemiestudium abbrechen und nach Sofia zurückkehren, da sein Vater aus einem Krieg als Krüppel heimgekehrt ist und von nun an seine Unterstützung benötigt.
Dazu sind unruhige Zeiten in Ulrichs Heimatland angebrochen. Kurz nach seiner Rückkehr im April 1925 verübt die kommunistische Partei einen Anschlag auf die politische Elite Bulgariens, der in die Geschichte des Landes eingehen wird. Als Resultat wird der Ausnahmezustand im Land ausgerufen, was Ulrichs engem Jugendfreund Boris das Leben kosten soll. Boris macht keinen Hehl daraus, dass er mit den kommunistischen Revolutionären sympathisiert - und wird kurz nach seinem Wiedersehen mit Ulrich wegen Volksverhetzung hingerichtet. Ein scheinbarer Lichtblick bietet sich Ulrich, als sich offenbart, dass Boris´ Schwester Magdalena dasselbe für ihn empfindet wie er für sie. Doch auch dieses Glück ist nicht von langer Dauer.
1945 nimmt der Stalinismus von Bulgarien Besitz, und Ulrich wird zum Spielball des kommunistischen Regimes und kann sich nicht dagegen zur Wehr setzen. Auch sein Traum, seine Leidenschaft für die Chemie für eine große Karriere als Wissenschaftler nutzen zu können, soll Ulrich somit verwehrt bleiben. Allerdings gibt es eine Zuflucht, die ihm die Möglichkeit bietet, aus seinem trüben und freudlosen Leben auszubrechen. Besagte Zuflucht ist die Welt seiner Tagträume, welcher die zweite Hälfte von "Solo" gewidmet ist. In Ulrichs Phantasie hat es Boris, dessen musikalisches Talent schon immer dem seinen weit überlegen gewesen war, in Amerika zu einem gefeierten Weltstar gebracht. Und auch die junge Georgierin Chatuna, die ebenso mutig wie selbstbewusst ist, bringt es weit. Ulrich selbst tritt in seinen Tagträumen bemerkenswerterweise kaum in Erscheinung, doch der Leser erkennt schnell, dass er hier so glücklich sein darf, wie es ihm sonst nie vergönnt war.
Bereits nach der Lektüre der ersten Seiten der tragischen Geschichte des glücklosen Ulrich wird jeder Leser bemerken, dass ihm nun etwas ganz Besonderes bevorsteht. Der indische Autor Rana Dasgupta vermag nicht nur, ein mitreißendes Portrait eines von stetigen politischen Irrungen und Wirrungen gebeutelten Landes abzuliefern. Vielmehr ist es Dasgupta gelungen, einen Protagonisten zu erschaffen, der mit seiner Zerbrechlichkeit und Passivität jedem Leser seine eigenen Schwächen vor Augen führt und ihm eine Lebensgeschichte zu geben, die ganz ohne jede Art von Larmoyanz oder Effekthascherei berührt, schockiert und unter die Haut geht. Egal ob Faschismus, Kommunismus oder Kapitalismus - in jeder Regimeform gerät Ulrich unter die Räder, so dass die Grenzen der drei Systeme bald zu verwischen beginnen.
In der zweiten Hälfte von "Solo", die sich mit Ulrichs Tagträumen befasst, beginnt die vormals tragische, oftmals bedrückende Atmosphäre des Romans einer temporeicheren und geradezu rauschhaften Qualität zu weichen. Besagter Stilwechsel gelingt Dasgupta geradezu meisterhaft und auch der sozialkritische Aspekt des Romans bleibt trotz des radikalen erzählerischen Umbruchs erhalten. "Solo" wirkt so trotz der Unterschiedlichkeit seiner beiden Teile wie aus einem Guss und weist einen Facettenreichtum auf, der seinesgleichen sucht. Ein fulminantes Buch voller Finesse, Phantasie und Tiefgang, an das man sich in Jahrzehnten noch erinnern wird.
Johannes Schaack
11.10.2010